Podcast-Boom "True Crime": Die Faszination an Verbrechen

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Nervenkitzel und Sensationsgier? Immer mehr Podcasts thematisieren Verbrechen - und sind damit sehr erfolgreich. Auch Lokalmedien können so neue Zielgruppen und zehntausende Hörer:innen erreichen.

Mord, Totschlag, ein brutaler Überfall oder ein schwerer Raub – Verbrechen üben eine manchmal fast ungewollte Faszination aus. Berichte darüber lesen wir in der Zeitung meistens vom ersten bis zum letzten Wort. Auch im Fernsehen boomen seit Jahrzehnten Sendungen wie „Aktenzeichen XY… ungelöst“ oder „Autopsie – Mysteriöse Todesfälle“; vor allem im Letztgenannten werden schonungslos Details der Taten geschildert. Lieber abschalten? Nein, dranbleiben! Aber warum sind wir so davon gefesselt? Ist es der Nervenkitzel, die Sensationsgier? „Wir sind wie im Rausch“, erklärt ein Psychiater und Gerichtsgutachter im Podcast „Wissen Weekly“ zur Folge “Warum stehen wir so auf wahre Verbrechen?”. Unser Körper werde stimuliert, wenn wir solche Schilderungen hören – der Puls steigt, wir bekommen Gänsehaut, Endorphine werden ausgeschüttet. Natürliche Prozesse des Körpers, die genauso stattfinden, wenn wir in Gefahr sind. Diese Bedrohung – auch wenn sie nicht real ist – kitzelt unsere Nerven. Und das macht die Faszination aus.

Überwiegend Frauen konsumieren Crime-Angebote

Wir durchleben etwas, das möglich ist – und das könnte der Grund sein, warum vor allem Frauen sich gerne mit Verbrechen beschäftigen. Das denken auch Paulina Krasas und Laura Wohlers von dem erfolgreichen Mordlust-Podcast, der überwiegend von Frauen gehört wird. Auch Zeitschriften wie Stern Crime lesen zu 80 Prozent Frauen. Sie wollen vor allem psychologische Muster verstehen und sich auf mögliche Gefahren vorbereiten, heißt es in dem Wissen-Weekly-Podcast, obwohl Männer deutlich häufiger von Verbrechen betroffen sind.

„Verbrechen im Quadrat“: Erfolgsgeschichte mit mehreren zehntausend Abonnent:innen

Auch der Podcast „Verbrechen im Quadrat“ der Regionalzeitung Mannheimer Morgen wird überwiegend von Frauen gehört, sagt die verantwortliche Redakteurin Angela Boll. Für die Gerichtsreporterin stand die vergangenen 20 Jahren das Schreiben im Vordergrund ihrer Arbeit. Audio war nie ein Thema – bis die Idee des Crime-Podcasts aufkam. Eine absolute Erfolgsgeschichte. Nach nur 15 Episoden blickt sie mit ihren Kolleg:innen schon auf eine Abonnentenzahl im mittleren fünfstelligen Bereich – zu genauen Zahlen möchte sich der Verlag nicht äußern. Schade – würde dies doch für die Qualität des Produkts sprechen. Aber eins wurde den Verantwortlichen schnell klar: Verbrechen geht immer – auch auf den Ohren. Und das generationsübergreifend. Denn Annika Lin, Digital-Marketing-Managerin der HAAS-Mediengruppe, zu der der Mannheimer Morgen gehört, macht zwar als Kernzielgruppe die 28- bis 44-Jährigen auf, „wir merken aber, dass auch immer mehr ältere und teilweise auch jüngere Menschen reinhören“. So reicht die Altersspanne für „Verbrechen im Quadrat“ mittlerweile von 23 bis 59 Jahre.

"Verbrechen im Quadrat" - True-Crime-Podcast des Mannheimer Morgen » mannheimer-morgen.de

  • Die Lokalredakteurin und Gerichtsreporterin Angela Boll verantwortet seit 2020 den Podcast „Verbrechen im Quadrat“ und blickt auf eine Abonnent:innenzahl im mittleren fünfstelligen Bereich – eine Erfolgsgeschichte für einen lokalen Podcast.

  • Die Kernzielgruppe ist zwischen 28 und 44 Jahre alt und vor allem weiblich.

  • Die Hörerschaft ist treu und klickt auch nach Staffelpausen von mehreren Wochen direkt wieder rein.

  • Die Folgen werden von nahezu allen Hörer:innen von Anfang bis Ende gehört.

  • Spotify hatte den Podcast in einer True-Crime-Playlist gelistet, so dass die Followerzahl hochschnellte.

  • Am erfolgreichsten ist die erste Folge über den tragischen Mordfall der Studentin Gabriele Z., den der Sokoleiter im Gespräch mit Reporterin Angela Boll schildert.

  • Im Frühjahr 2022 beginnt die dritte Staffel.

"Nehmen uns bewusst Zeit"

Heißt das nun, dass sich alle Lokal- und Regionalzeitungen an ein Audio-Crime-Format setzen sollten? So einfach ist es dann wohl doch nicht, denn hinter solchen Erfolgsgeschichten steckt wie immer viel Arbeit. „Einen Podcast zu produzieren ist ganz anders als das Schreiben von Artikeln. Wenn ich in der Zeitung berichte, dann muss ich ziemlich genau filtern – es gibt Zeilenvorgaben, nicht alle Informationen sind wichtig, wir müssen auf den Punkt schreiben und können uns den roten Faden gut zurechtlegen. Das ist bei Audio anders“, erklärt Angela Boll. „Wir nehmen uns bewusst viel Zeit für eine Folge – etwa 40 bis 50 Minuten durchschnittlich oder teilen die Fälle sogar auf zwei Episoden auf. Ich kann also durch die Gespräche, die ich führe, viel mehr Informationen wiedergeben, weiß aber vorher nie genau, wie sich die Interviews und damit die Geschichte entwickeln. Das macht die Arbeit spannend.“ Das heißt aber nicht, so die Reporterin weiter, dass es auch die Recherche und Gesprächsvorbereitung einfacher macht – „im Gegenteil“, sagt sie. „Ich kann zwar neue Sachverhalte hineinbringen, die auch so noch nie in der Zeitung standen, aber die Vorarbeit dafür ist enorm.“

Podcast-Host Angela Boll im Gespräch mit Ermittler Bernd Striebel.

Passende Gesprächspartner: „Nicht jeder fühlt sich am Mikrofon wohl“

Nachdem sie einen passenden Fall gefunden hat, der sich gut darstellen lässt, macht sie sich an die Akquise – und die gestaltet sich oft schwierig. „Nicht jeder fühlt sich am Mikrofon wohl – aber das ist extrem wichtig, sonst ist es kein Hörerlebnis.“ Zwar könne man in der Postproduktion noch ein paar Stotterer oder Pausen herausschneiden, aber generell muss die Sprache flüssig sein. Da Angela Boll bei jedem Fall gerne verschiedene Stimmen und damit unterschiedliche Aspekte beleuchtet, ist die Recherche besonders intensiv. Sie spricht im Vorfeld mit Anwält:innen, Ermittler:innen, Richter:innen oder Staatsanwält:innen – auch ihre eigenen Kolleg:innen kommen zu Wort und erinnern sich an ihre eigenen Recherchen. Jede Folge – und das ist der Redakteurin wichtig – ist journalistisch aufgearbeitet. Eine Sache, die bei vielen Podcasts – auch von Redaktionen – vernachlässigt wird, sagen zumindest die beiden Kommunikationswissenschaftler:innen Lutz Frühbrodt und Ronja Auerbacher in ihrer Studie „Den richtigen Ton treffen: Der Podcast-Boom in Deutschland“ der Otto-Brenner-Stiftung von August 2021.

Studie: Podcasts müssen journalistischer werden

Frühbrodt und Auerbacher kommen in der Studie zu dem Schluss, dass sich Podcasts einen festen Platz als Medienangebot sichern. „„Aus der ersten Experimentierwelle ist eine neue Etablierungswelle entstanden“, beobachtet Frühbrodt. „Inzwischen gehören Podcasts zum alltäglichen Medienrepertoire jüngerer Nutzer:innen, sie kommen jedoch langsam aber sicher auch bei den älteren Jahrgängen an.“ Eine Tatsache, die auch Angela Boll und Annika Lin von “Verbrechen im Quadrat” bestätigen. Die Zielgruppe fächert sich immer mehr auf. 

Die Wissenschaftler:innen kritisieren in ihrer Studie aber mangelndes journalistisches Handwerk bei Podcasts: Die qualitative Inhaltsanalyse von zehn populären Politik-Formaten habe ergeben, dass die journalistische Qualität dieser Podcasts zwar grundsätzlich sehr gut sei, aber fast alle ausgewerteten Podcast-Folgen unbelegte Aussagen aufwiesen. Auch die fehlende Trennung von Nachricht und Meinung könnte zum Problem werden, macht Autorin Ronja Auerbacher deutlich: „Besonders bei dialogischen Formaten geht die Berichterstattung oft unmittelbar mit einer subjektiven Bewertung durch die Moderator:innen einher. Das setzt auf Seiten der Hörer:innen eine sehr hohe Medienkompetenz voraus, die vor allem bei jüngeren Nutzer:innen nicht immer gegeben ist.“ 

Angela Boll, Gerichtsreporterin und Podcast-Host

Angela Boll, Gerichtsreporterin und Podcast-Host  -

Angela Boll arbeitet seit 2001 in der Lokalredaktion des Mannheimer Morgen, zunächst als Polizeireporterin, dann als Gerichtsreporterin. Im True-Crime-Podcast "Verbrechen im Quadrat" spricht sie seit 2020 mit Ermittler:innen, Jurist:innen und Mediziner:innen über die Ermittlungen wahrer Kriminalfälle. Außerdem widmet sie sich sozialen Themen und befragt in der Rubrik "Zu Gast in Mannheim" Prominente auf der Durchreise.

Acht Tipps für die Podcastproduktion

  • Podcastproduktionen sind aufwendig: Eine gute Vorbereitung ist daher obligatorisch. Ein Ablaufplan, der einzelne Schritte nicht nur auflistet, sondern auch beschreibt, schafft eine Struktur, die jeder nachvollziehen kann. So können auch Vertreter:innen oder neue Kolleg:innen schneller in die Produktion einsteigen.

  • Integration im Redaktionsalltag: Weil Audioformate in der Erstellung viel Zeit beanpruchen, ist es notwendig, die Produktion in den Redaktionsalltag zu integrieren. Wer sich als Lokalmedium für einen Podcast entscheidet, sollte auch die Arbeitszeit dafür einplanen.

  • Podcasts laufen nicht nebenbei: Audioformate sollten kein Nebenprodukt zu Artikeln sein, sondern immer für sich stehen können. Manche Menschen lesen, andere hören lieber - es ist wichtig, diese Unterschiede bei der Produktion mitzudenken.

  • Vermarktung hilft: Wer als Redaktion auf den Podcast-Zug aufspringen möchte, muss nicht nur Inhalte liefern, sondern auch Marketingmaßnahmen planen. Social Media ist eine Möglichkeit, eine Kooperation mit den Plattformen wie Spotify eine andere - wer es auf die Listings der Anbieter schafft, erreicht direkt mehr Hörer:innen. Vermarkter:innen sollten von Anfang an ebenfalls am Planungstisch sitzen.

  • Kommunikation entscheidend: Podcasts sollen ein Hörerlebnis sein und Spaß machen. Darum ist es wichtig, sich die richtigen Ansprechparner:innen einzuladen. Wer sich am Mikrofon nicht wohlfühlt, sollte keinen Podcast aufnehmen. Ein Vorgespräch mit den Protagonist:innen ist daher obligatorisch. Dabei darf auch der Hinweis nicht fehlen, dass sich der Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin im Vorfeld Gedanken zum Thema macht, um unnötige Pausen zu vermeiden. Eine langwierige Postproduktion kann den Spaß am Format schmälern.

  • Daten auswerten: Um aus dem Format das Beste herauszuholen, ist es ratsam, auf die Nutzer:innen und die Klicks zu schauen. Plattformen können sehr detailliert beschreiben, wer wann reinhört und wer wann wieder abschaltet. Diese Informationen sind nützlich, um den Podcast zu verbessern.

  • Mehr Kreativität! Neues ausprobieren, Dinge testen, Aufbau überdenken - es gibt viele Möglichkeiten, einen Podcast aufzusetzen und diese sollten Redakteur:innen nutzen. Immer das gleiche Schema zu verwenden, kann auf Dauer einschläfernd wirken - oder ein Stilmittel sein. Das müssen Journalist:innen testen.

  • Nutzer:innen fragen: Wer sich nicht sicher ist, ob ein neuer Stil wirklich die richtige Entscheidung ist, sollte seine Hörer:innen einfach fragen. Das kostet nichts und bringt viel Aufschluss.