Exklusiv-Interview

Anne Renzenbrink, wie gefährlich leben Journalist:innen in Deutschland?

Artikelbild: Anne Renzenbrink, wie gefährlich leben Journalist:innen in Deutschland?
© Kajetan Sumila (Unsplash)

Jüngst hat der Verein Reporter ohne Grenzen in seiner aktuellen Rangliste zur Pressefreiheit Deutschland herabgestuft - von "gut" auf nur noch "zufriedenstellend". Ein Interview zu den Hintergründen.

Jedes Jahr bewertet die Organisation Reporter ohne Grenzen die Lage der Pressefreiheit weltweit. Ihr Ranking gilt auch hierzulande als wichtiges Messinstrument für die Situation von deutschen Journalist:innen. Und um die scheint es nicht gut zu stehen. Die Gewalt gegen Medienvertreter:innen hat laut der Organisation ein neues und erschreckendes Niveau erreicht. Grund sind vor allem Übergriffe auf Demonstrationen.

In der Rangliste ist Deutschland nun von Platz 11 auf 13 abgerutscht oder anders ausgedrückt: Die Lage gilt nicht länger mehr als "gut", sondern nur noch "zufriedenstellend". Sicherlich, die Corona-Pandemie wirkt auch hier wieder als "Brandbeschleuniger". Aber das alleine ist zu kurz gegriffen. Denn Journalist:innen wurden bereits in einigen Jahren davor vermehrt angegriffen, wie uns Anne Renzenbrink von Reporter ohne Grenzen im Interview erzählt. Wie diese Angriffe aussehen, warum Polizist:innen besser geschult werden sollten und was Medienhäuser selbst tun können, darüber sprechen wir mit Anne Renzenbrink.

Hinweis: Das Ranking bezieht sich immer auf die Lage aus dem Vorjahr, somit dokumentiert die Liste für 2021 Vorfälle aus 2020.

Ihr Verein Reporter ohne Grenzen nennt Deutschlands aktuelle Platzierung „ein deutliches Alarmsignal“. Was gibt Grund zur Sorge?

Anne Renzenbrink: Die Gewalt gegen Journalist:innen in Deutschland hat im vergangenen Jahr ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Mindestens 65 körperliche Angriffe gezielt gegen Journalist:innen haben wir im Jahr 2020 dokumentiert. Wir gehen aber von einer viel höheren Dunkelziffer aus. Um die Brisanz zu verdeutlichen: Die aktuelle Zahl hat sich im Vergleich zu 2019 verfünffacht. Sie liegt auch deutlich höher als 2018, also dem Jahr, als Medienschaffende am Rande von Demonstrationen in Chemnitz angegriffen wurden und sie liegt auch noch einmal höher als 2015, also während der Hochphase der Pegida-Bewegung.

In diesem Jahr hatten wir 39 Angriffe gezählt. Die Mehrheit der Angriffe gegen Medienschaffende im Jahr 2020 ereignete sich auf oder am Rande von landesweiten Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen. Mehr als Dreiviertel aller körperlichen Angriffe ereigneten sich am Rande von Demonstrationen, darunter neben den Corona-Protesten zum Beispiel auch auf Demos gegen das Verbot der linken Internetplattform linksunten.indymedia.org und auf Demos zum 1. Mai. Schon die Vorjahre haben gezeigt, dass Demonstrationen und Proteste zu einem gefährlichen Ort für Journalist:innen in Deutschland geworden sind.

Nimmt die Gewalt gegen Journalist:innen stetig zu?

Renzenbrink: Dass die Gewalt stetig zunimmt, spiegelt sich zumindest nicht bei den Zahlen der körperlichen Angriffe wider. Nach 2015 und den Pegida-Protesten ist diese Zahl wieder gesunken. 2019 haben wir beispielsweise „nur“ 13 Fälle dokumentiert. Sie ist also nicht auf einem konstant hohen Niveau. Nicht in der Zahl enthalten sind allerdings zahlreiche Drohungen, Anfeindungen und sonstige Behinderungen der journalistischen Arbeit.

2019 gab es weniger Vorfälle, dennoch rangierte Deutschland auf Platz 13 – so wie jetzt 2021. Wie erklären Sie die gleiche Platzierung bei einer unterschiedlichen Anzahl von Angriffen?

Renzenbrink: Dazu müssen wir uns die Methodik unserer Rangliste anschauen. Entscheidend ist der Blick auf die Gesamtpunktzahl, die jedes Land nach der Auswertung erhält. Zum einen werden Fragebögen ausgewertet, die hunderte Expert:innen auf allen Kontinenten ausfüllen. Eine andere Komponente, die wiederum von uns gemessen wird, ist die Gewalt. Daraus ergibt sich eine Zahl, die den Ranglistenplatz bestimmt. Diese Zahl müssen wir aber immer im Verhältnis zu den Nachbarländern sehen. Damit sind nicht die geografischen Nachbarländer gemeint, sondern ebenjene auf der Rangliste.

Angenommen ein Land rutscht zwei Plätze nach unten, dann kann ein anderes Land aus methodischen Gründen zwei Plätze aufsteigen. Um die Länder in den vergangenen Jahren besser vergleichen zu können, ist also die Punktzahl entscheidend. Und diese Punktzahl, die Deutschland nun erhalten hat, war seit Einführung der aktuellen Methodik in 2013 noch nie so schlecht. Deutschland stand sogar schon einmal auf Platz 16, aber mit einer besseren Punktzahl.

Wie sehen die Angriffe gegen Journalist:innen aus?

Renzenbrink: Bei den mindestens 65 Vorfällen handelt es sich „nur“ um körperliche Angriffe, also wenn Medienschaffende geschlagen, getreten werden, wenn sie so geschubst werden, dass sie zu Boden gehen, wenn gegen ihre Kamera geschlagen wird. In dieser Zahl nicht enthalten ist die verbale Gewalt, wenn Journalist:innen beleidigt und bedroht wurden, entweder direkt auf Demonstrationen, per Drohbrief oder im Internet. Diese Form der Gewalt können wir nicht quantifizieren, weil es zum einen eine unglaubliche hohe Zahl von diesen Vorfällen gibt, zum anderen machen die Betroffenen das erst gar nicht öffentlich.

Die Fälle, die wir mitbekommen, dokumentieren wir z.B. in unserer Nahaufnahme Deutschland. Medienschaffende berichten uns davon, wie belastend diese verbale Gewalt sein kann. Einige Betroffene erhalten sogar Drohungen nach Hause. Im vergangenen Jahr hat beispielsweise ein Journalist, der zur rechtsextremen Szene recherchiert, ein Paket mit einem verdorbenen Schweinekopf geschickt bekommen. 2019 haben Unbekannte das ehemalige Wohnhaus eines Fotojournalisten, der die rechte Szene in Süddeutschland dokumentiert, aufgesucht und mit roter Farbe symbolisch eine Blutspur gemalt. Auf das Haus haben sie den Namen seines Sohnes geschrieben und darunter „Papa tötet dich“. Es gibt also auch sehr persönliche Bedrohungen.

Wie hat sich die Corona-Pandemie in anderen Ländern widergespiegelt? Sind weitere Länder in der Rangliste „abgerutscht“?

Renzenbrink: Diese Entwicklung hatte sich bereits im vergangenen Jahr angedeutet, als wir im April 2020 die damalige Rangliste veröffentlicht haben. Die Corona-Pandemie hat weltweit repressive Tendenzen verstärkt und gefestigt - dort, wo sie bereits vorhanden waren. Wir beobachten, dass in einigen Ländern die Verbreitung von „Falschmeldungen“ – also von journalistischen Inhalten, die der Regierung nicht passen – unter Strafe gestellt wird. Es gibt Verbote, dass Infektionszahlen nicht veröffentlicht werden dürfen, die die Journalist:innen selbst recherchiert haben, weil sie den Angaben der Behörden nicht glauben.

Ein krasses Beispiel ist Syrien. Dort wurde eine Nachrichtensperre für alle Medien außer der staatlichen Nachrichtenagentur verhängt. Auch China ist ein trauriges Beispiel. Hier wurden Journalist:innen festgenommen, nachdem sie unabhängig über die Situation berichtet hatten. Aber auch über Corona hinaus muss man sagen, dass autoritäre Regime Anlässe finden, um die Berichterstattung einzuschränken oder zu unterdrücken. In Belarus wurden 2020 hunderte Medienschaffende festgenommen, die meisten von ihnen vorübergehend. Sie hatten über die Massenproteste nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl berichtet. Auch in Vietnam gab es im Vorfeld eines Kongresses der kommunistischen Partei eine Verhaftungswelle gegen unabhängige Journalist:innen.

© Reporter ohne Grenzen e.V.

Glauben Sie, dass die Gewalt abnehmen wird, sobald die Corona-Pandemie eingedämmt ist?

Renzenbrink: Ich kann natürlich nicht in die Zukunft schauen, aber für die ganz nahe Zukunft bin ich noch sehr besorgt, denn die Proteste gehen weiter und auch in diesem Jahr 2021 haben wir bereits zahlreiche Angriffe gegen Journalist:innen registriert. Mit Entspannung der Pandemie würden sicherlich auch die Demonstrationen abnehmen. Es ist aber so essenziell, dass in Zeiten einer globalen Pandemie berichtet wird. Kritische Berichterstattung kann Leben retten und ist unglaublich wichtig. Und daher ist unsere große Sorge, dass sich Medienschaffende nun überlegen, ob sie von der nächsten Demonstration berichten oder nicht, weil die Angst vor Angriffen da ist. Viele Kamerateams werden bereits von Sicherheitsteams begleitet. Das zeigt ja schon, mit welchem Risiko Berichterstatter:innen rechnen.

Was muss sich ändern, damit Journalist:innen wieder ohne Angst ihren Job machen können?

Renzenbrink: Schon vor der Pandemie haben wir gefordert, dass Polizei und Sicherheitsbehörden Medienschaffende auf Demonstrationen konsequenter schützen und da ergibt sich ein durchwachsendes Bild. Eine Demonstration mit besonders vielen Übergriffe war die in Leipzig am 7. November 2020. Dort hat die Polizei laut Medienschaffenden vor Ort nur verzögert eingegriffen und war erst einmal damit beschäftigt, sich selbst zu schützen. Unabhängig von Angriffen auf Demonstrationen, so unser Eindruck, scheint die Polizei manchmal gar nicht zu wissen, welche Rechte Medienschaffende haben. Es kommt vor, dass Journalist:innen nicht durchgelassen oder die Personalien aufgenommen werden, Platzverweise ausgesprochen oder diese Medienschaffenden angedroht werden. Das zeigt, das in den Fragen des Medienrechts noch nicht überall Klarheit herrscht.

Andererseits sehen wir auch aufmerksame Polizist:innen, die Kamerateams in brenzligen Situationen unter Polizeischutz aus dem Demonstrationsgeschehen rausführen. Es gibt mittlerweile auch ausgewiesene Medienbereiche, in denen Journalist:innen geschützt von der Polizei Aufsager machen und von den Protesten berichten können. Und es entstehen Kooperationen. Die Polizei in Sachsen zum Beispiel hat begonnen, das Thema „Rechte von Medienvertreter:innen“ stärker in die Aus- und Weiterbildung zu integrieren. An den Fortbildungen ist der DJV Sachsen beteiligt. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit ist also da, es ist aber noch ganz viel Luft nach oben und darum fordern wir weiterhin mehr Schutz für Medienschaffende.

Was können Journalist:innen selbst tun?

Renzenbrink: Vor dem Hintergrund der aktuellen Gewalt haben wir und ein Bündnis von Journalistenorganisationen, Mediengewerkschaften und Beratungseinrichtungen einen Schutzkodex für Medienhäuser entwickelt. Darin festgehalten sind Standards, die festangestellten und freien Journalist:innen helfen sollen, wenn sie angegriffen worden sind oder um präventiv vorzugehen.

Ein ganz wichtiger Aspekt ist, dass es eine zentrale Anlaufstelle in den Redaktionen gibt, an die sich Betroffene wenden können. Dort soll ihnen Hilfe angeboten werden, z.B. in juristischer Form, wenn sie Anzeige erstatten wollen, oder auch psychologische Unterstützung. Wichtig ist auch eine finanzielle Hilfe, wenn Journalist:innen Personenschutz brauchen, aus Sicherheitsgründen nur noch mit dem Taxi zur Arbeit fahren, wenn sie nicht mehr im Melderegister stehen wollen, was die Auskunft der Adresse angeht oder wenn ein Wohnungswechsel nötig ist.

Gab es positive Zeichen, die Sie 2020 trotz der Gewalt in Deutschland feststellen konnten?

Renzenbrink: Jein. Die Gewalt ist natürlich ein großes Thema, das uns auch weiterhin begleiten wird. Darüber hinaus schauen wir uns zur Bewertung der Pressefreiheit in Deutschland natürlich noch andere Dinge an, z.B. juristische Rahmenbedingungen, Gesetze, die wir kritisch sehen, Informationsfreiheit oder Pressevielfalt. Ein großes Thema 2020 und in den Vorjahren ist das BND-Gesetz, also ein Gesetz, dass Befugnisse des Bundesnachrichtendiensts bzw. des deutschen Auslandsgeheimdiensts festhält.

2020 konnten wir einen Riesenerfolg und ein wichtiges Zeichen für die Pressefreiheit verzeichnen: Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Überwachung des weltweiten Internetverkehrs durch den BND für verfassungswidrig. Zuvor hatte das Gesetz es dem BND erlaubt, die Kommunikation von ausländischen Journalist:innen im außereuropäischen Ausland zu überwachen, wenn dies im politischen Interesse Deutschlands lag.

Das ist auch für Journalist:innen in Deutschland relevant, wenn wir an internationale Rechercheprojekte wie die „Panama Papers“ denken, für die Redaktionen auf der ganzen Welt zusammengearbeitet haben. Dagegen hatten wir geklagt und so war dieses Urteil erst einmal ein Erfolg. Nun wurde aber eine Neufassung Ende März 2021 verabschiedet und leider schließt diese immer noch nicht die Möglichkeit zur Überwachung ausländischer Medienschaffender aus. Wir behalten uns vor, erneut vor das Bundesverfassungsgericht zu gehen.


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Anne Renzenbrink - © Martin von den Driesch
© Martin von den Driesch

Anne Renzenbrink arbeitet seit September 2016 als Pressereferentin bei Reporter ohne Grenzen. Davor hat sie als Journalistin in Deutschland und Asien für verschiedene Print- und Onlinemedien berichtet. Stationen waren unter anderem die kambodschanische Zeitung Phnom Penh Post und die Nepali Times in Kathmandu. Als Stipendiatin der Robert-Bosch-Stiftung war sie 2015 als Medienbotschafterin in China. Anne Renzenbrink hat in Heidelberg Politikwissenschaft und Ethnologie sowie in Shanghai ein Semester Mandarin studiert und ihren Master in Journalismus an der Universität Hongkong absolviert.