Cancel Culture im Journalismus: „Das wird man ja wohl noch tweeten dürfen!“

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© Chris J. Davis (Unsplash)

Was früher die "Sprachpolizei" war, ist heute ein Fall von "Cancel Culture"? Was ist dran an der "Kultur des Löschens"? Und wie sollten Redaktionen mit Druck und Protest aus dem Netz umgehen?

„Twitter ist nicht das Impressum der New York Times“, schreibt Bari Weiss in ihrer online gestellten Kündigung, „aber es ist zu ihrem mächtigsten Redakteur geworden.“ Im Sommer dieses Jahres hat die in der Redaktion umstrittene Kolumnistin hingeschmissen. Mit ihrer oft konservativen Meinung eckte Weiss bei der traditionell liberalen NYT und ihrer Leserschaft an. Letztere soll vor allem online, über heraus getwitterte Empörungen Druck auf die Redaktion ausgeübt haben, bis auch diese Weiss zunehmend für ihre konservativen Ansichten kritisierte. Die Journalistin spricht von einer Kollegenschaft, die nur noch im Interesse einer kleinen Zielgruppe auf Twitter schreibt - Gegenmeinungen unerwünscht. Der ehemalige NYT-Kulturkritiker Edward Rothstein bringt die Entwicklungen innerhalb der Zeitung mit der Cancel Culture (CC) in Verbindung. „Diversität wird zu Uniformität“, schreibt Rothstein in einem Gastbeitrag für die ZEIT.

Was bedeutet Cancel Culture?

Der Begriff ist hoch umstritten. Die einen sagen, er gefährde die Meinungsfreiheit und reduziere ironischerweise Vielfalt, indem nur noch das Gesellschaftsbild der Online-Gemeinschaft gelte (derzeit kommen die meisten „CC-Angriffe“ aus dem linksliberalen Spektrum). Die anderen sagen, es ist nicht mehr als ein neues, vielleicht sehr emotional aufgeladenes Modewort für die Debatte. Eine CC gebe es demnach nicht. Schließlich findet sich noch eine dritte Gruppe - auch eben jene der Initiator:innen - die darin die Möglichkeit sieht, die Mächtigen für Fehlverhalten zu bestrafen. Mit dem Ausschluss aus der Öffentlichkeit treffen sie sie am härtesten. So kann beispielsweise CC auch als ein Teil der MeToo-Debatte gesehen werden. Auch wenn bisher alle Anklagen gegen den US-Schauspieler Kevin Spacey fallen gelassen wurden - schwer vorstellbar, dass er noch einmal Screentime bei Netflix oder anderswo erhält.

"Twitter-Brigade" in Redaktionen

Es bleibt schwierig, den Begriff der Cancel Culture zu verorten - und schwierig ihn zu kritisieren, wenn man an die Harvey Weinsteins des Showbiz denkt. Definition hin oder her, im Journalismus dürfen Twitter-Debatten nicht Einfluss auf die Redaktion und ihre Themen haben. Die Journalist:innen Weiss und Rothstein werfen genau dies der NYT vor. "Aus Liberalismus erwuchs eine illiberable Cancel Culture", so Rothstein über seinen ehemaligen Arbeitgeber. Über die Twitter-Community heißt es: "Sämtliche Ereignisse auf dieser Welt scheinen durch vorgefertigte Rassen- und Gender-Filter betrachtet werden zu können." Wer dem nicht entspreche, würde eben "gecancelt" werden.

Eines der wichtigsten Gebote im Journalismus: Objektivität. Diese ist natürlich durch den:die jeweilig:e Redakteur:in immer ein Stück weit subjektiv gefärbt. Aber Politiker:innen, Lobbyist:innen und Meinungsmacher:innen sollten keinen Einfluss haben. Gleiches sollte in der heutigen Zeit um Online-Kommentartor:innen erweitert werden. Den Druck, der besonders durch Twitter entsteht, spüren mittlerweile auch deutsche Redaktionen. So hatte Mitte Oktober bei der Süddeutschen Zeitung die „Twitter-Brigade" zugeschlagen, kritisiert Welt-Chefredakteur Ulf Porschardt in einem Meinungsstück das Verhalten der SZ-Chefredaktion. Was war passiert? In aller Kürze: Musikkritiker Helmut Mauró hatte ein kritisches Stück über den Star-Pianisten Igor Levit veröffentlicht. Dem SZ-Autoren wurde u.a. Antisemitismus vorgeworfen. In einer ersten Stellungnahme verteidigte die Zeitung noch den Artikel, vier Tage später bat sie Levit und ihre Leserschaft - wortwörtlich - um Entschuldigung. Der Text von Mauró ist sicherlich keine journalistische Glanzleistung, auch mag die Vermischung der Musik und der Social-Media-Nutzung des Künstlers etwas fragwürdig sein. Natürlich dürfen Medien keine menschenverachtenden Töne dulden oder Bühne bieten. Allerdings mögen die antisemitischen Aussagen in Maurós Stück Interpretation bleiben. Der Starpianist ist selbst bekannt für drastische Aussagen, in denen er AfD-Anhänger:innen Menschlichkeit abspricht. Und so lassen sich zwischen der Mehrheit empörter Online-Kommentare auch jene lesen, die den Artikel loben und die Entschuldigung der SZ-Chefredaktion nicht nachvollziehen können.

Dank der sozialen Netzwerke können Journalist:innen und Nutzer:innen in engeren Austausch miteinander treten. Oft wird Journalist:innen vorgeworfen, zu weit weg von ihrem Publikum zu sein. Sind sie ihnen jetzt zu nah? Die neuen Möglichkeiten der „digitalen Leserbriefe“ soll nicht genutzt werden. Redaktionen sollen auf sie reagieren – aber sie dürfen davon nicht ihre Arbeit beeinflussen lassen. „Wer Journalismus betreibt, sollte nicht beim ersten Shitstorm einknicken“, sagt Ulf Porschardt in seiner Kritik an die SZ.

Twitter aus Redaktionskonferenzen verbannen

Wie nun also mit Druckmittel aus maximal 280 Zeichen umgehen? Medien müssen ihr Publikum ernst nehmen und ihm zu hören. Sie können mit einem Interview mit Autor:in oder Chefredakteur:in reagieren, in dem diese Stellung zu den wesentlichen Kritikpunkten beziehen. Kommt es zum Aufschrei im Netz, kann es aber nicht sein, dass die Chefredaktionen ihre Autor*innen damit alleine lassen. Im gängigen Redaktionsablauf nehmen Beiträge im Vorfeld immer andere Redakteur*innen ab. Auch bei der SZ muss jemand diesen Artikel gelesen und für druckbar befunden haben. Sonst entsteht bei Autor:innen das Gefühl, sie dürfen nicht mehr frei berichten und sind dem Publikum schutzlos ausgeliefert. Denkbar wäre bei strittigen Beiträgen die Einführung einer Runde aus mehreren Kolleg:innen, die mit der:dem Autor:in gemeinsam vor Veröffentlichung diskutieren. Im Zweifel kann gleich eine Gegenstimme aus dem Kollegium mit veröffentlicht werden. Möglich ist auch die größere Einbindung von Kommentaren aus den sozialen Netzwerken. Solange sie im Debattenton bleiben, kann die Redaktion sie stehen lassen, unkommentiert und dennoch für jeden sichtbar. Das schafft Transparenz.

Nirgendwo sonst bietet es sich so sehr an, über strittige Meinungen und Fragen zu diskutieren wie im Journalismus. Diese Debattenkultur darf keiner CC weichen. Geschieht dies, werden sich Redaktionen in Zukunft nicht nur in aller Form entschuldigen, sondern sich von ihrem Publikum lenken lassen, demnach Themen auswählen und - noch schlimmer - Themen weglassen.

In einem der Kommentare zu Maurós Artikel heißt es als Reaktion auf die Entschuldigung der SZ übrigens: "Es sind erschreckende Beispiele wie dieses, die einer 'Aber das wird man doch noch sagen können'-Fraktion in die Hände spielen, indem sie zwischen tatsächlich 'unsäglichen' Aussagen und entgegengesetzten, aber völlig akzeptablen Aussagen nicht mehr differenzieren."