Kollaboration statt Konkurrenz im Journalismus

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Weniger Ressourcen, mehr News - klingt nach Widerspruch, ist aber Realität im heutigen Journalismus. Kollaboratives Arbeiten kann helfen, die komplexer werdende Nachrichtenlage abzubilden.

„Data is the new oil.“ Das Zitat des Mathematikers und Unternehmers Clive Humby ist bereits 15 Jahre alt, scheint auf die heutige Zeit aber mehr denn je zuzutreffen. Für Humby trifft es sicherlich zu – der Mann verdient sein Geld mit Daten. Doch auch in einer Branche, deren Handwerkszeug die Sprache ist, die ihr Gut in Wörtern verkauft, spielen Daten eine immer größere Rolle. 2,6 Terabyte Daten, das entspricht 11,5 Millionen Dokumente, spielte ein Whistleblower der Süddeutschen Zeitung (SZ) zu. Das bis dato größte Datenleak im Journalismus mündete 2016 in die Veröffentlichung der „Panama Papers“. Zu Beginn standen die Redakteure der SZ vor der Frage: Wer soll das alles auswerten? Immerhin ging es um hochkomplexe Strukturen der Finanzwelt, um Steuerbetrug und Geldwäsche. Schließlich entschieden sie sich zur Zusammenarbeit mit dem International Consortium for Investigative Journalists (ICIJ). Am Ende arbeiteten rund 400 Journalist:innen aus ca. 80 Ländern an den Dokumenten. Weitere so prominente Beispiele für solche Kollaborationen oder Kooperationen* gibt es einige im Journalismus: Die mittlerweile als illegal eingestuften Cum-Ex-Geschäfte kosteten mehrere europäische Staaten Millionen an Steuergeldern und wurden vom Recherchezentrum Correctiv mit 19 europäischen Medienpartnern aufgedeckt. Die sogenannte Ibiza-Affäre führte 2019 zum Bruch der Regierungskoalition in Österreich. Am Ende gab es Neuwahlen. Vorausgegangen waren Video-Veröffentlichungen vom SPIEGEL und der SZ. Aufgrund der Brisanz hatten sich beide Redaktionen zur gemeinsamen Verifikation des Bildmaterials entschlossen.

Komplexere Nachrichtenlage erfordert mehr Ressourcen

Mehr oder weniger enge Zusammenarbeit gab es schon immer im Journalismus. Allerdings war und ist es für die Medien wichtig, sich voneinander abzugrenzen, konkurrieren sie doch um Werbeeinnahmen. Die Exklusivität gilt als Garant, um Publikum und damit auch Einnahmen zu sichern. In einer Zeit, wo durch die zunehmende Technisierung und Digitalisierung unserer Lebensbereiche riesige Datenmengen entstehen, Menschen globaler agieren und denken, wird jedoch auch die Nachrichtenlage komplexer.

Auch öffentliche Datensätze kosten Geld

Die Realität in all diesem Umfang abzubilden, dafür braucht es nicht nur personelle Ressourcen, die Millionen an Daten auswerten können. Oft fehlen gerade kleinen Redaktionen finanzielle Mittel, um aufwändige Geschichten realisieren zu können. Um den Zugriff auf die Datenbank der US-Wählerregistrierung bezahlen zu können, schlossen sich in Texas 21 Redaktionen zusammen. In den USA werden teils hohe Gebühren für Datensätze von Behörden und öffentlichen Unternehmen gefordert. Auch in Europa sind sie standardmäßig nicht offen und kostenfrei, dabei sind Journalist:innen mehr und mehr auf diese Informationen angewiesen.

Neue Möglichkeiten im Lokaljournalismus

Das US-amerikanische Center for Cooperative Media listet in einer Datenbank bereits über hundert Projekte journalistischer Kollaborationen auf. Was dabei auffällt: Ähnlich wie das Beispiel aus Texas sind nicht immer die großen Medien-Flagschiffen an den Kollaborationen beteiligt. Besonders die lokalen Nachrichtenorganisationen können von der redaktionsübergreifenden Arbeit profitieren. Zwar veröffentlichen sie nicht exklusiv, sondern gemeinsam eine Geschichte, in der Partnerschaft sind aber ganze neue Herangehensweisen möglich. Investigative Recherchen waren bislang nicht das Merkmal lokaler Medien. In Ohio schlossen sich 35 Medienhäusern zusammen. Die große Zahl an Redakteur:innen schaffte es, Behörden, Bewohner:innen und Betroffene im ganzen Bundestsstaat zur grassierenden Opioid-Krise zu befragen. Ihre Ergebnisse resultierten in einer eigenen Datenbank, die Dramatik der Situation klarmacht und den Erfolg bisheriger Lösungsansätze dokumentiert. Auch in Deutschland schließen sich Lokaljournalist:innen zu investigativen Projekten zusammen. Eines der bekanntesten ist Correctiv.Lokal, das ähnlich wie der „große Bruder“ funktioniert. So haben Lokalmedien beispielsweise bislang in neun Städten und einem ganzen Bundesland gemeinsam mit tausenden Bürger:innen zum Wohnungsmarkt recherchiert.

Kooperationen mit Expert:innen

Neue Zusammenarbeiten, das kann nicht nur zwischen den Redaktionen passieren. Der Journalist Michael Seidel hat zum Thema Kollaboration im Journalismus geforscht und sieht vor allem Potenzial bei der besseren Zusammenarbeit von Medien und Expert:innen. Laut Seidel sind bei einer öffentlichen Debatte oftmals die gleichen Gesichter in den Talkshows zu sehen. Interviewpartner:innen würden weitgehend nach Verfügbarkeit und Exklusivität, weniger nach Kompetenz ausgewählt. Auch hier spielen wieder die fehlenden Ressourcen eine Rolle: Meist fehlt es schlicht an Zeit eigene, neue Expert:innen zu recherchieren. Schon jetzt gibt es Suchmaschinen, wie der Vielfaltfinder, der explizit Gesprächspartner:innen mit Migrationshintergrund vorschlägt und so für mehr Diversität in Interviews sorgen kann. Michael Seidel arbeitet jetzt mit einem Team an einer Art sozialen Plattform, die in ganz neuem Maße Journalist:innen und Expert:innen zusammenbringen möchte. Das Projekt befindet sich derzeit noch in der Finanzierungsphase, soll es aber zukünftig möglich machen – basierend auf Daten – in Kürze kompetente Ansprechpartner:innen zu den gewünschten Keywords zu finden.

Neue Herausforderungen bei der Recherche

Neue Expert:innen und „neue“ Kolleg:innen bedeuten nicht nur mehr verfügbare Ressourcen, sondern bringen auch mehr Perspektiven, Erfahrungen und Biografien ein. Kooperationen und Kollaborationen können den Journalismus pluralistischer machen. Jedoch fordert diese Form der Zusammenarbeit ein hohes Maß an Vertrauen, besonders im Investigativjournalismus. Redakteur:innen müssen abwägen können, mit wem sie ihre brisanten Informationen teilen. Gleichzeitig ergeben sich auch ganz simple Herausforderungen, wie die Teamarbeit mit verschiedenen Persönlichkeiten, eigenen Routinen und Arbeitsabläufen. Ebenfalls müssen die Organisation und die Aufteilung der Arbeitsbereiche geklärt werden. Der Informationsfluss muss funktionieren, damit es nicht zu Kommunikationsfehlern kommt. Projektmanager:innen können von Nöten sein. Im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW analysierten die beiden Hochschulprofessoren Jun-Prof. Christopher Buschow und Prof. Christian-Mathias Wellbrock die Innovationslandschaft im Journalismus in Deutschland. In ihrem 2020 veröffentlichten Gutachten stellen sie zwar in Bezug auf Kooperationen eine „wachsende Vernetzung und Zusammenarbeit im Journalismus“ fest – jedoch ist diese noch zu „unausgereift“. In der Unternehmenskultur und beim Thema Recht gebe es Barrieren, die es erst zu überwinden gelte. Auch spiele die Zusammenarbeit am Anzeigenmarkt eine Rolle. Diese sei bislang ebenfalls gescheitert, auch aufgrund „wettbewerbsrechtlicher Hürden“.

Der traditionelle, konkurrierende Journalismus wandelt sich immer mehr zu einem kollaborativen, da die redaktionsübergreifende Zusammenarbeit es ermöglicht, Kosten zu senken, zusätzliches Wissen und Erfahrung zu nutzen sowie Innovationen in der Recherche und der Arbeitsweise zu schaffen. Dies kann nur gelingen, wenn Organisation und Teamprozesse funktionieren und Medien keine Einbußen an Exklusivität und Einnahmen befürchten müssen. Es fehlt noch an Lösungen, diese Hürden erfolgreich zu überwinden. Lassen sie sich vielleicht gemeinsam finden?

*Die Wörter „Kollaboration“ und „Kooperation“ werden hier als Synonym verwendet. Zwar variieren sie im Grad der Aufteilung der jeweiligen Arbeitsleistung im gemeinsamen Arbeitsprozess. Die Übergänge sind jedoch teilweise fließend.