Exklusiv-Interview
Krieg in der Ukraine: Was sollten Journalist:innen beachten, Professor Schicha?
Unsichere Informationen und dramatische Bilder: Journalist:innen müssen sich auf ihr Handwerk besinnen: Fakten checken und medienethisch handeln, denn nicht jedes Bild eignet sich für einen Bericht.
Bei dem Krieg in der Ukraine gibt es viele Informationen, aber nicht alle sind gesichert. Worauf sollten Journalist:innen bei der Berichterstattung besonders achten?
Professor Christian Schicha: Natürlich müssen Journalist:innen über das berichten, was in der Ukraine gerade passiert, auch wenn es derzeit schwierig ist, die Informationen zu verifizieren. Darum ist es nötig, die Unsicherheit transparent zu machen. Medien können dann immer den Hinweis geben, dass die Informationslage problematisch ist und nicht alle Fakten geprüft werden können. Jeder Bericht sollte diese Unsicherheit thematisieren. Diese Transparenz der Arbeitsbedingungen ist momentan sehr wichtig. Wir sehen das aktuell auch in Nachrichtensendungen wie der Tagesschau, die mit entsprechenden Hinweisen arbeiten. Dennoch ist es nötig, weiterhin das journalistische Handwerkszeug anzuwenden. Das heißt: Fakten prüfen, immer und überall, wo es möglich ist – wenngleich das sehr aufwendig ist, vor allem weil in diesem Krieg Journalist:innen nicht immer unmittelbar vor Ort sein können.
Welche Rolle spielt Social Media bei diesem Krieg?
Schicha: Social Media spiel in diesem Krieg eine immens wichtige Rolle – aus zwei Gründen: Zum einen versuchen der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, aber auch die Klitschko-Brüder via Social Media die Zensur in Russland auszuhebeln. Sie sind auf allen Kanälen sehr aktiv, produzieren Handyvideos, machen Liveschalten bei Online-Medien oder im Fernsehen – sogar im deutschen Frühstücksfernsehen; sie haben also eine sehr große Reichweite. Sie geben dadurch aktuelle Einblicke, aber auch diese Informationen müssen geprüft werden. Zum anderen gibt es auf Social Media unglaublich viele Fake-News privater Nutzer:innen: alte Videos mit Bombardements aus ganz anderen Ländern werden als aktuelle Geschehnisse ausgegeben. Das dürfen Medien nicht einfach übernehmen. Darum noch einmal: Factchecking ist in der derzeitigen Situation das Wichtigste.
Man spricht immer wieder von der Macht der Bilder – und da gibt es einen schmalen Grat zwischen ethischer und unethischer Berichterstattung. Wie können Journalist:innen das Leid der Menschen vermitteln?
Schicha: Aus bildethischen Gründen ist es sehr wichtig, Opferbilder nur so zu zeigen, dass die Menschen darauf nicht zu identifizieren sind. Ich habe vor kurzem ein schlechtes Beispiel gesehen, das einige Medien übernommen haben: Eine Frau im Pelzmantel steht vor Ruinen und weint. Ihr Gesicht ist klar zu erkennen. Das ist kein gutes Titelbild, obwohl es natürlich rührt und etwas in uns auslöst; es zeigt das Leid mit voller Wucht. Aber es ist sehr wichtig, Opfer, Kinder, Tote, Verletzte nicht identifizierbar abzubilden. Denn der Horrorfall wäre: Medien zeigen einen toten Soldaten und die Familie weiß noch nicht, dass er gestorben ist. Das dürfen Journalist:innen nicht zulassen.
Wie kann eine gute Bildsprache gelingen? Welche Bilder eignen sich?
Schicha: Es müssen Bilder sein, die die dramatische Situation darstellen, ohne Menschen zu erkennen. Zwei Beispiele: Der berühmte „Falling Man“ – der Mann, der bei dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 aus Verzweiflung und Angst aus dem Fenster gesprungen ist. Man sieht einen Menschen fallen, erkennt ihn nicht, aber die Szene schildert die ganze dramatische Situation mit voller Härte. Ein anderes Bild ist der tote Flüchtlingsjunge an einem türkischen Strand. Die Medien haben das Gesicht gepixelt. Auch dieses Foto erschlägt uns, zeigt uns, was passiert, wie dramatisch die Lage ist, ohne das Kind bloßzustellen. Diese beiden Fälle zeigen, dass es möglich ist, gleichzeitig die Situation in ihrer Schonungslosigkeit darzustellen und trotzdem ethisch zu handeln.
Für viele Menschen sind diese Bilder kaum auszuhalten. Sind Triggerwarnungen nötig?
Schicha: Ja, absolut. Triggerwarnungen sind durchaus wichtig. Denn Journalist:innen sollten das Grauen in Wort und Bild zeigen – wenngleich unter ethischen Gesichtspunkten – aber jeder Leser, jede Zuschauerin, jeder Nutzer sollte selbst entscheiden können, was er wie konsumiert. Triggerwarnungen sind daher sinnvoll.
Die Bilder aus den Kriegsgebieten gehen aber auch an Journalist:innen nicht spurlos vorbei. Wie können sie sich schützen?
Schicha: Natürlich berührt das. Man hört ja als Journalist:in oder Wissenschaftler:in nicht plötzlich auf, Mensch zu sein. Daher ist es auch wichtig, sich eine Auszeit von der Berichterstattung zu nehmen und sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Wer den ganzen Tag über den Krieg berichtet, Opfer sieht, Informationen zu Todeszahlen bekommt, der sollte abends den Konsum einschränken. Es hilft auch, mit Kolleg:innen, Freund:innen oder der Familie zu sprechen und eigene Probleme zu thematisieren, die sich im Zusammenhang mit der Kriegsthematik ergeben.
Professor Christian Schicha » schicha.net
Christian Schicha ist ein deutscher Medienwissenschaftler und Professor für Medienethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg am Standort Erlangen. Er studierte Kommunikationswissenschaft, Germanistik und Philosophie an der Universität Duisburg-Essen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Medienethik und der Politischen Kommunikation. Hier beschäftigt er sich mit Formen und Ausprägungen von politischer Inszenierung, Selbstkontrolle der Medien und der Fotomanipulation.
Schicha war erster Sprecher der Fachgruppe „Kommunikations- und Medienethik“ bei der DGPUK (Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft), ist aktiv im Netzwerk Medienethik, Jurymitglied der Initiative Nachrichtenaufklärung e.V. und Mitherausgeber der Schriftenreihe Kommunikations- und Medienethik im Nomos-Verlag Baden-Baden.