Langsam, aber stetig? Wie Slow Journalism uns wachrütteln möchte
Entschleunigt euch! Nicht jede:r Journalist:in muss immer die:der erste sein. Die Slow-Media-Bewegung steht für andere Grundsätze im Journalismus. Ist sie das Allheilmittel für ein müdes Publikum?
Slow Food, Slow Travel, Slow Fashion und Slow Gardening: Mittlerweile lässt sich ein „slow“ scheinbar vor jeden Bereich des täglichen Lebens hängen, und schon ist ein neuer Trend entstanden. Vielleicht ein Gegenentwurf zu der immer schneller werdenden Technologie, die unsere heutige Welt definiert? Natürlich gibt es sie auch im Journalismus, die neue Entdeckung der Langsamkeit.
Nachrichten im Sekundentakt
Aktualität und der Thrill, als Erste:r zu berichten, das trieb Journalist:innen bereits 200 Jahre zuvor an. Fehlende Innovationen und Infrastruktur beschränkten jedoch die Berichterstattung auf eine Zeitung am Morgen und vielleicht noch auf eine Abendausgabe. Heute dagegen surrt und piept es ununterbrochen auf dem Smartphone, ploppen Geschehnisse aus aller Welt als Push-Notifications im Minutentakt auf. Die Entwicklung mündet in die ewige Henne-Ei-Frage: Wer war zuerst da? Die Technologie, die eine neue Taktung an Nachrichten ermöglichte, oder das Publikum, das in einer globalisierten Welt nach mehr Inhalten verlangte und damit den Anstoß für entsprechende Technologien gab?
Reaktion auf den „Häppchenjournalismus“
Mit der Digitalisierung ist der Journalismus zu einer noch schnelllebigeren Branche geworden. Um in kürzester Zeit das Weltgeschehen abdecken zu können, müssen Reporter:innen berichten, ohne in die Tiefe gehen zu können. Der Slow Journalism versteht sich als Reaktion auf diesen "Häppchenjournalismus", wie es Rob Orchard formuliert. 2011 gründet der britische Journalist mit Kolleg:innen "Delayed Gratification", nach Website-Aussage das "erste Slow-Journalism-Magazin der Welt". Über die Idee hinter dem Printmagazin sagt Rob Orchard in einem Interview:
"Instead of telling you about stories while they were happening, what we would do is take a much more dispassionate approach. We’d look and see what was important, what was nonsense and turn to the big stories after the dust has settled."
Slow Journalism, auch nachhaltiger oder grüner Journalismus genannt, ist keine neue Erfindung. Seine Merkmale – Themen längerfristig und aus neuen Perspektiven zu betrachten, Hintergründe einer Nachricht zu recherchieren, über Themen weiterhin zu berichten, auch wenn alle anderen Kameras und Mikrofone schon eingepackt haben – finden sich auch im investigativen oder konstruktiven Journalismus wieder. Wenn man so möchte, auch in den ideellen Ansprüchen an den Journalismus generell. Ob eigene Gattung, Theorie oder Bewegung – eine allgemeingültige Definition des Begriffs gibt es nicht. Demnach könnten so auch investigative Reportagestücke jeder Zeitung dazugezählt werden. Jedoch verstehen die meisten Autor:innen, die sich damit befassen, unter Slow Journalism einen ganzheitlichen Ansatz, der auch strukturell wirkt, wie beispielsweise niedergeschrieben im „Slow Media Manifest“ des gleichnamigen Instituts. Die Vertreter:innen des entschleunigten Journalismus sehen sich erst einmal nur als Ergänzung. Ihnen ist bewusst, dass es weiterhin den klassischen, um Aktualität bemühten Journalismus geben muss. Und so sind Slow-Media-Formate und Beiträge immer nur als Teil der Berichterstattung zu sehen.
Berichterstattung während der Pandemie geht in zwei Richtungen
In der Corona-Krise mag Slow Journalism – um hier ein sehr drastisches Bild zu zeichnen – fast anmuten, als würde man einem hunger-leidenden Menschen Slow Food ans Herz legen. In einer Ausnahmesituation, die mit viel Unsicherheit verbunden ist, bei der Entwicklungen und Entscheidungen das eigene Leben ganz persönlich betreffen, steigt das Interesse nach Pressekonferenzen im Live-Stream, täglich aktualisierte Statistiken und News im Live-Ticker. Das ist die eine Seite der Berichterstattung während der Pandemie. Tatsächlich fragte die BBC bereits im Mai 2020, also noch mitten im ersten Lockdown: „How much news is too much?“ Und auch das Nieman Journalism Lab der Harvard University meldete um die gleiche Zeit einen signifikanten Rückgang des Nachrichtenkonsums von US-Amerikaner:innen. Natürlich, so der Autor des Artikels Joshua Benton, können neue Schockmeldungen den Nachrichtenkonsum wieder ansteigen lassen, aber:
„But this is a pattern we’ve seen before, on subjects as different as Donald Trump’s various violations of presidential norms and climate change: Sustained attention is hard to maintain over time, no matter how objectively important a topic might be. The lives of nearly every American (and, of course, billions elsewhere) are now starkly different than they were a couple months ago — but their interest in news has rapidly regressed toward the mean.“
Slow Journalism kann den Konsum sogar noch erhöhen
Kim Anderson, Assistenzprofessor im Bereich Journalismus an der University of Southern Denmark, nennt die Nachrichtenmüdigkeit, im angelsächsischen Fachsprech „News Fatigue“, als eines der zentralen Probleme im heutigen Journalismus. Die zu Beginn beschriebene schier unendliche und jederzeit sich aktualisierende Nachrichtenlage kann beim Publikum ein Gefühl der Müdigkeit hinterlassen, auf das schnell Resignation folgt. Denn wie sollen sie all diese Artikel und News lesen, bevor die nächsten auf großen und kleinen Bildschirmen erscheinen? Selbst die globale Herausforderung durch Covid-19 scheint die Menschen zu erschöpfen. Ulrik Haagerup, Gründer des dänischen Constructive Institute, das sich für einen ausgewogenen und lösungsorientierten Journalismus einsetzt, fasst es treffend zusammen:
“In times of crisis, people really understand the need for decent journalism...[but] it's getting overwhelming because there's basically been nothing but corona stories. (…) Of course, it's a big story, but it's a psychological, well-known fact that being overwhelmed leads people to turn back to their cat and their Netflix series.”
Sein Landsmann Anderson wollte wissen, wie Slow Journalism sich auf die Nachrichtenmüdigkeit auswirkt und wer diese Art des Journalismus nutzt. Dafür griff er auf Daten der dänischen Slow-Journalism-Website Zetland zurück. Mitte September 2020 veröffentlichte er seine Studie (Paid Content, mehr zur Methodik Andersons hier) und kam zu dem ernüchternden Ergebnis: Slow Journalism wird von denjenigen konsumiert, die sowieso gerne Nachricht konsumieren. Und: Der Konsum kann durch Slow Journalism sogar noch zunehmen. Das würde den guten Absichten der Slow-Journalism-Bewegung widersprechen.
Es ist und bleibt ein Nischenprodukt
Natürlich, eine Studie alleine sollte nicht ausschlaggebend sein. Stattdessen ist zu hoffen, dass noch mehr Medienwissenschaftler:innen untersuchen, wie sich der Slow Journalism auf News Fatigue auswirkt. Bis dahin sollte dieser entschleunigte Journalismus vielleicht weniger als das Allheimittel bei Nachrichtenmüdigkeit gesehen werden. Was er ohne Frage ist und auch bleiben wird – ein Nischenprodukt, denn das Schreiben und Recherchieren langer Geschichten ist teuer. Der Slow Journalism ist eine Zusatzquelle, eine Trendbewegung gegen den „Häppchenjournalismus“. Wenn er nur alleine dies erreicht, hat er schon viel bewegt.