Träge war gestern: Agiles Arbeiten im Journalismus

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© UX Indonesia (Unsplash)

Agiles Arbeiten - immer mehr Firmen setzen darauf. Mitarbeiter:innen kooperieren in Projekten über Abteilungen hinweg. Flexibilität sollen die agilen Methoden bringen. Auch für den Journalismus?

Wer Agiles Arbeiten beschreiben möchte, der liest vor allem viele, viele Schlagwörter. Selbstorganisierte Teams, Interdisziplinarität, iterative Prozesse, Transparenz, Fokussierung, Feedbackkultur, Offenheit, Respekt, und so weiter und so fort. Doch was steht eigentlich hinter diesen Begriffen und kann der Journalismus davon profitieren?

Einordnen lässt sich dies mit einem kontrovers diskutierten Beitrag von Julia Bönisch im journalist im Juni 2019. Damals war Bönisch noch in der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und forderte: „Wir brauchen gute Manager an der Spitze der Redaktionen.” Weiter schreibt sie: „Die Redaktionsleitung, die sich ausschließlich über Inhalte definiert, gehört zunehmend der Vergangenheit an. Stattdessen tritt eine neue Generation in die erste Reihe, die sich viel mehr als Manager und Produktchef definiert, die nicht mehr nur in Formaten und Texten, sondern in Workflows und Prozessen denkt.“ Nach diesem Beitrag kam ein Aufschrei und Bönisch verließ die Süddeutsche. Dabei hat sie Recht mit ihrer Aussage. Die Führungsetage in den Redaktionen muss sich nicht nur neue Produkte und/oder deren Weiterentwicklung überlegen, sondern auch neue Geschäftsfelder erschließen und gleichzeitig wirtschaftlich clever denken sowie planen. Markus Kaiser ordnet das für die Hanns-Seidel-Stiftung wie folgt ein:

“Heute genügt die Weiterentwicklung des Kernproduktes Print, Hörfunk und lineares Fernsehen nicht mehr, selbst wenn man das klassische Text-Bildbasierte Internet als weiteres Kernprodukt hinzuzählen würde. Es geht darum, neue journalistische Darstellungsformen einzuführen, die erst durch das Internet möglich wurden, in dem schließlich alle bisherigen Medienformate aufgehen.”

Stefan Ottlitz, Leiter der Produktentwicklung beim Spiegel, geht noch weiter: „Mathematisch ausgedrückt ist Print eine Teilmenge des Onlinejournalismus.” Mit dem Internet haben Journalist:innen mehr Möglichkeiten dazu gewonnen; sie können Geschichten anders wiedergeben, indem sie neue Erzählformen entwickeln wie etwa 360-Grad-Videos, Liveshows, Multimedia-Reportagen oder Audioformate. Doch wie können dabei nun Agile Arbeitsmethoden unterstützen?

Abteilungsdenken aufbrechen

Schauen wir noch einmal auf die Schlagwörter: Beim Agilen Arbeiten kommen interdisziplinäre Teams zusammen, die in iterativen, also sich wiederholenden Prozessen ein Produkt (weiter-)entwickeln. Diese wiederkehrenden Zyklen, beispielsweise Sprints genannt, sind transparent mit einer Feedbackschleife gestaltet, die offen darlegt, was gut und was weniger gut läuft. Zwei Dinge stehen bei dieser Arbeitsweise im Mittelpunkt: auf der einen Seite das Team bzw. jede:r Mitarbeiter:in an sich und auf der anderen Seite die Verbesserung des Produkts. Diese Arbeitsweise bricht so genanntes Silodenken, also starkes Abteilungsdenken und -handeln, auf, dem es oftmals an Zusammenhalt mangelt.

Agiles Arbeiten in der Produktentwicklung

Früher wurde einer Zeitung etwa alle fünf bis zehn Jahre ein neuer Look verpasst, ein so genannter Relaunch. Ein paar neue Formate kamen hinzu, die Schriften wurden modernisiert, fertig. Bei Webseiten war das deutlich umfangreicher, ein riesiges Dokument voller Anforderungen wurde formuliert, das kaum umzusetzen war. Und wenn dann die Homepage nach einem langwierigen Prozess endlich online ging, war sie schon wieder veraltet. Das Internet entwickelt sich so rasant weiter, dass Prozesse von ein, zwei Jahren wie eine Ewigkeit wirken. Eine Agile Arbeitsweise könnte hier helfen - wie etwa Scrum. Ein kleines Team mit Redakteur:innen, Software-Entwickler:innen, Social-Media-Manager:innen und Marketing-Expert:innen entwickelt dabei in kleinen Zyklen immer neue Features. Es wird nicht auf einmal eine große Webseite gelauncht, die zwei Jahre Entwicklungszeit enthält, sondern in kleinen Schritten eine Homepage gebaut und weiterentwickelt.

Weiterentwicklung in kleinen Schritten

So ein Prozess lässt sich noch leichter mit folgendem Bild verdeutlichen: Das Team möchte ein Fortbewegungsmittel bauen. Zunächst kreiert es ein Skateboard, das die minimale Anforderung - das Fortbewegen - erfüllt. Es ist das so genannte Minimum Viable Product (MVP). Um es für die Nutzer:innen handhabbarer zu machen, kommt wenig später ein Lenker hinzu. Dann verwandelt es sich nach einer weiteren Phase zu einem Fahrrad, Motorrad und letztendlich zu einem Auto. Es geht beim Agilen Arbeiten nicht darum, sofort das perfekte Produkt (Auto) zu haben, sondern in transparenten Schritten das Produkt immer weiter zu verfeinern (vom Skateboard zum Auto).

Diese Grafik verdeutlicht das Prinzip von der Agilen Methode Scrum. Ein Produkt wird immer weiter verfeinert. Quelle: https://www.agile-academy.com/de/product-owner/das-mvp-im-scrum/

Im Journalismus lassen sich solche Prozesse gut für Formatentwicklungen einsetzen. Wenn aus allen Bereichen (Redaktion, IT, Marketing) Expert:innen von Anfang an und in kleinen Steps das Produkt entwickeln, dann verschlankt diese Arbeitsweise das System. Es wird flexibler und schneller.

Scrum in der täglichen journalistischen Arbeit

Eigentlich stammt die Agile Arbeitsweise aus der Softwareentwicklung, lässt sich aber auch auf den Journalismus (und viele andere Branchen) anwenden. Wie dies in der Formatentwicklung aussieht, ist oben bereits beschrieben, doch gibt es Scrum und Co. auch in der täglichen Arbeit. Brady Mortensen, Senior Director of Technology Operations bei Deseret Digital Media und Newsroom-Experte, sieht in der Arbeit von Redaktionen viele Scrum-Techniken, ohne dass die Journalist:innen dies realisiert haben.

“Daily scrum meetings are not uncommon. With local TV stations or daily papers, the “sprint” length is one day, and the end product is a collection of newscasts and a paper. There is also a usable product created at the end of each cycle. Newsrooms live and die by these practices.”

Nachrichtenportale wie die Chicago Tribune und die Washington Post arbeiten ebenfalls mit Scrum- oder Agil-Methoden. Dabei stellen sie sich immer die Frage, was möchten die Nutzer:innen und wie lässt sich das gut umsetzen. Bei der Washington Post läuft das ungefähr so ab: “In the daily scrum meetings, the team decides what they are working on for that day. Journalists pair up for work, which is a process The Post had used since long before scrum was implemented. Two journalists sit at the same desk and finish the project. This intensifies the work and limits distractions. The goal is to go live with the news as soon as possible, and then get feedback from the users and the group. Based on the feedback, the team adapts and adjusts for the next cycle.”

Die Storytellerin und Agilistin Melanie Coffee hat auf medium.com ausgeführt, wo sie Agile Methoden in der alltäglichen journalistischen Arbeit sieht. Sie erklärt darin, wie eine Redaktion bzw. ein Newsroom arbeitet, wenn etwa ein Brand in einem Haus ausbricht. Dass ein:e Reporter:in zunächst eine Erstmeldung rausgibt, Fotograf:innen und auch Video-Journalist:innen hinfahren, ihren Content produzieren und sich so ganz langsam die Geschichte vervollständigt, bis alle Informationen bekannt sind. Am nächsten Tag gibt es dann die obligatorische Feedbackschleife, um Prozesse zu verbessern. 

Zwölf Punkte für Agile Journalist:innen

Wem das noch nicht reicht, der kann sich die zwölf Prinzipien von Agilen Journalist:innen durchlesen, die Michael Gregoris bereits 2015 aufgeschrieben hat. Er hat dafür die zwölf Prinzipien der agilen Softwareentwicklung an moderne Journalist:innen angepasst, wie er selbst sagt: Die höchste Priorität sei dabei die Zufriedenheit der Nutzer:innen, das Content upgedatet und verbessert wird. Dabei ist es wichtig, den Leser:innen immer wieder neuen Anreiz zu geben, zurück zu der Geschichte bzw. zum Nachrichtenportal zu kommen. Und er ist von einer Sache überzeugt, von der alle Journalist:innen überzeugt sein sollten:

“If you tell a good story, people will read it.”