Exklusiv-Interview

Armin Scholl, wann und wie sollten Journalist:innen über Proteste berichten?

Artikelbild: Armin Scholl, wann und wie sollten Journalist:innen über Proteste berichten?
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Kapitol-Stürmung, Querdenker, Fridays for Future - Journalist:innen müssen sich immer wieder mit Protesten auseinandersetzen und berichten. Wie Proteste entstehen, erklärt Prof. Dr. Armin Scholl.

Herr Prof. Scholl, wir sprechen heute über Proteste, Demonstrationen und die Verbindung zum Journalismus. Das Thema ist für uns aktuell durch die Stürmung des US-Kapitols in den Fokus gerückt, aber auch die Querdenker-Demos beschäftigen die Medien in diesen Monaten immer wieder. Wie entstehen solche teilweise gewaltbereiten Proteste?

Prof. Dr. Armin Scholl: Protest ist dadurch begründet, dass nicht alle Meinungen und Themen in der Politik etwa repräsentiert sind. Wir haben eine politisch institutionalisierte Debatte, die sogenannte  Parlamentsdebatte, egal ob auf Bundes- oder Länderebene. Dort werden wichtige Themen diskutiert, aber eben nicht alle. Taucht nun ein relevantes Problem auf und es wird von der Politik nicht entsprechend thematisiert und diskutiert, dann entsteht Protest. Drei Dinge sind dabei wichtig: erstens die Relevanz des Themas. Ich kann keinen Protest darüber entfachen, ob ich meinen Rasen heute oder morgen mähen muss. Zweitens die Lösbarkeit des Problems. s gibt zum Beispiel keinen Protest gegen den Kapitalismus; auch antikapitalistischer Protest ist immer konkret anlass- oder ereignisbezogen. Und drittens: Forderungen, die die Demonstranten formulieren.

Nehmen wir mal das Beispiel der Black-Lives-Matter-Bewegung, die sich vor allem um die Gleichberechtigung von Schwarzen Menschen dreht. Es kam nach vielen Demonstrationen und Protestaktionen auch zu Plünderungen. Wie entsteht so etwas?

Scholl: Die Protestierenden stehen dann meist mit dem Rücken zur Wand, der Druck ist zu groß geworden. Beim Beispiel Black Lives Matters und der Lage von Schwarzen Menschen in den USA müssen wir uns die aktuelle Lage anschauen. Eltern müssen ihren Kindern erklären, wie sich verhalten sollen, wenn sie der Polizei begegnen. Dass sie zurückhaltend agieren, weil sie schon aus einem nichtigen Grund quasi erschossen werden könnten. Wenn die Situation in der Gesellschaft so unerträglich geworden ist, dann könnten die Betroffenen fast sagen: Wir haben nichts mehr zu verlieren außer unseren Ketten. Das war ja auch das Motto – und dann ist die Wut so hochgeschaukelt. Bedingt auch noch durch etwa Aussagen von US-Präsident Donald Trump, der immer wieder Öl ins Feuer gegossen hat. 

Welche Rolle spielt das Internet bzw. Social Media bei solchen Protesten?

Scholl: Durch die globale Vernetzung in Social Media entstehen leichter Bewegungen beziehungsweise sie befördern Proteste. Erstens helfen sie beim Informationsaustausch, zweitens begünstigen sie die Mobilisierung. Auch Radikalisierungen entwickeln sich durchs Web 2.0 leichter. Vor dieser Zeit ist ein Großteil der Radikalisierungen einfach verpufft, weil niemand etwas davon mitbekommen hat. Aber jetzt wissen radikalisierte Menschen auf einmal: Es gibt noch mehr, die genauso denken, und das ermutigt die Personen. In Social Media können Gleichdenkende zusammenkommen, aber es erzeugt auch eine scheinbare Überschätzung von Minderheiten. Es sieht oft so aus, als seien es viel mehr Menschen, als es eigentlich sind. 

Tragen auch Journalist:innen mit ihrer Berichterstattung zu solchen Fehlinterpretationen bei? Es gibt ja durchaus den Vorwurf, dass Medien Themen und Aktionen aufbauschen.

Scholl: Ich würde es nicht als Schuldzuweisung formulieren. Journalismus hat ja neben der reinen Nachrichten- und Informations-Berichterstattung auch die Aufgabe, Debatten anzustoßen, und da ist es natürlich notwendig, nicht nur auf Mehrheiten zu schielen, sondern auch relevante Minderheiten zu repräsentieren. Jetzige Minderheiten könnten schließlich in fünf Jahren Mehrheiten sein, weil sich aus dem Protest etwas Größeres bildet. Journalist:innen müssen so etwas im Blick haben und auch behalten. Das sieht man am Beispiel der Anti-Atomkraft-Bewegung. Die war in den 70er-Jahren eine Minderheit, wurde beschimpft mit Aussagen wie „Ihr wollt uns zurück in die Steinzeit bringen“ und ähnliches. Hätten Medien diese kleine Anti-AKW-Bewegung damals mehr wahrgenommen und über ihre Forderungen berichtet, hätte das möglicherweise verhindert, dass so viele Atomkraftwerke gebaut werden und die Probleme mit der Entsorgung wären nicht so gravierend. Das heißt also: Für Journalist:innen ist es attraktiv, auf Minderheiten zu schauen und damit Diskurse anzuregen. 

Sie sagen aber selbst: Durch eine Berichterstattung über Minderheiten erscheinen diese manchmal größer als sie sind.

Scholl: Das ist das Dilemma daran. Es ist eine Gratwanderung und kann eigentlich nur schiefgehen. Gelöst wird diese Schwierigkeit, indem Journalist:innen Bewegungen einordnen, kommentieren und Hintergrundinformationen liefern. Früher sind Journalist:innen oft auf Shitstorms hereingefallen, weil sie die Masse selbst überschätzt haben. Mittlerweile wissen wir, dass man einen Shitstorm oder Protest im Internet mit Bots und ähnlichen Mitteln beliebig groß erscheinen lassen kann. Da dies jetzt bekannt ist, können Medien über Aktionen berichten und gleichzeitig einordnen und gegebenenfalls über das wahre Ausmaß aufklären.

Bei Demonstrationen treffen Journalist:innen immer wieder auf Menschen, die sich von Medien und damit Nachrichten abgewendet haben. Diese sind teilweise sogar gewaltbereit, wie man zuletzt bei der Kapitol-Stürmung gesehen hat. Wie kommt es dazu?

Scholl: Journalismus hat oft das Problem, im Taumel des Geschehens zu sein. Berichterstatter:innen müssen schnell reagieren – später weiß man natürlich immer alles besser. In den heutigen Zeiten von Social Media sind Journalist:innen zwar vielleicht nicht mehr die ersten, die berichten - dieses Monopol haben sie verloren -, aber trotzdem sind sie normalerweise diejenigen, die zumindest für die breite Öffentlichkeit Themen oder Ereignisse aufgreifen. Oftmals schenken sie offiziellen Quellen überproportional Aufmerksamkeit, es mangelt dann an verschiedenen Positionen, an Ausgewogenheit. An dieser Stelle beginnen manche Nutzer:innen, an den Medien zu zweifeln und sie zu kritisieren. Allerdings korrigieren Medien diese Einseitigkeit später oft und stellen nötigen Pluralismus nachträglich her. 

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Scholl: Ja, etwa Corona: Ich hatte den Eindruck, dass es in der Berichterstattung nur noch die Position der Virolog:innen gab, in den Talkshows war fast nur noch diese Berufsgruppe vertreten – und irgendwann im Laufe des Jahres machte sich beim Publikum Unzufriedenheit breit. Nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als normaler Fernsehzuschauer empfand ich das zum Teil sogar schon so. Das war Anlass für manche, den Verdacht zu schöpfen, Journalist:innen seien in ihrer Berichterstattung nicht frei oder zumindest fehlerhaft. Im angesprochenen Taumel der Ereignisse kann so eine einseitige Berichterstattung passieren, aber mit der Dauer wird es quasi als systematisch empfunden, und so entsteht bei einer kleinen Gruppe von Menschen die Wut auf Journalist:innen. Es ist nämlich durchaus so, dass sehr viele Menschen die Nachrichten in Zeitungen, im TV oder im Radio konsumieren – auch das hat Corona gezeigt. Die aktuellen Informationen wissen viele zu schätzen. Aber es gibt auch eine kleine Gruppe, die richtet sich sozusagen in ihrer Feindseligkeit gegenüber dem Journalismus ein, die ist auch resistent gegenüber Korrekturmaßnahmen. Da kann man als Medium und auch Journalist:in nichts mehr reparieren.

Kann man diese Menschen mit einer ausgewogenen Berichterstattung wieder erreichen?

Scholl: Wohl nicht. Ich bin aber der Meinung, dass Menschen, die ein großes Misstrauen gegenüber den Medien hegen und sie als Lügen- oder Systempresse bezeichnen, nicht entsprechend handeln. Denn diese Leute konsumieren durchaus die Tagesschau, lesen Zeitung. Sie behaupten zwar, dass alles darin Quatsch ist, verfolgen die Nachrichten aber trotzdem. 

Sie glauben aber nicht, was in der Tagesschau gesagt wird, sondern vertrauen fragwürdigen Quellen?

Scholl: Genau. Sie glauben ihren so genannten Alternativ-Medien blind. Dabei gibt es ein Problem: Bei den Alternativ-Medien arbeiten keine Profis, die haben meist nicht die Ressourcen zu recherchieren und dann auch keine verlässliche Quelle. Und plötzlich entwickeln sich die Ereignisse anders, als dort berichtet, und die Informationen stellen sich als falsch heraus. Das heißt nicht zwangsläufig, dass diese Protestler:innen sofort wieder zum Qualitätsjournalismus wechseln, aber das Problem reduziert sich auf eine kleine Gruppe. Alternativ-Medien können sich oft nicht dauerhaft etablieren, weil sich die Leser:innen abwenden, wenn sich der Protest auflöst. Diese Medien brauchen die Resonanz ihrer Konsument:innen. Und wenn sie die nicht mehr haben, weil entweder das Problem nicht mehr brisant genug ist oder sie mit ihrer Berichterstattung dauernd falsch liegen, dann verschwinden sie auch wieder. 

Was bedeutet das dann für den Protest?

Scholl: Es gibt da sicherlich keine absolute Synchronität, sondern durchaus eine Verzögerung zwischen dem Abwenden von Alternativ-Medien und dem Protest-Ende. Aber wenn ein Protest erlahmt, erlahmt meistens auch die Mobilisierung und damit die Ressourcen dieser Alternativ-Medien, die dann nach und nach ganz verschwinden.

Prof. Dr. Armin Scholl

Prof. Dr. Armin Scholl - (Bild: Susanne Lüdeling)
(Bild: Susanne Lüdeling)

Prof. Dr. Armin Scholl ist Kommunikationswissenschaftler an der Universität Münster. Zudem ist er Sprecher des Arbeitskreises Medien des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung.