Schlechte Zeiten? Gute Zeiten für den Dokumentarfilm!

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© Laura Lee Moreau (Unsplash)

Der Dokumentarfilm boomt. Non-fiktionale Inhalte liegen bei Sendern und Plattformen stark im Trend. Wir erklären, woher die große Nachfrage kommt und vor welchen Herausforderungen die Branche steht.

Klimakrise, Covid-19-Pandemie, Ukraine-Krieg. Sind die Menschen in Not, lebt der Journalismus auf. Das klingt so zynisch, wie es wahr ist. In Zeiten der Verunsicherung und Bedrohung wollen die Menschen informiert bleiben. Auch über die aktuelle Nachrichtenlage hinaus, scheint es ein gesteigertes Interesse an non-fiktionalen Inhalten zu geben, das sich u.a. in der großen Nachfrage nach Dokumentarfilmen zeigt. Von einem  derzeitigen „Doku-Boom“ war bereits im vergangenen Sommer im Branchenmagazin DWDL zu lesen. Der Trend scheint anzuhalten, wie Kristian Kähler beobachtet. Kähler ist stellvertretender Vorsitzender der Sektion Dokumentationen in der deutschen Produzentenallianz, einer unabhängigen Interessenvertretung der deutschen Produzent:innen von Film- Fernseh- und anderen audiovisuellen Werken. „Die Menschen haben gemerkt, dass das Leben da draußen, Auswirkungen auf ihr eigenes Leben haben kann“, sagt Kähler, der zwei Produktionsfirmen leitet, zu deren Repertoire auch Dokus gehören. Die Realität wirkt plötzlich so spannend, wie die Fiktion. 

Corona-Pandemie bringt Doku-Boom und hohe Kosten

Diesen „Hunger“ nach der Wirklichkeit sieht Kähler an seiner Auftragslage. Sender, wie ARD und ZDF, sind seine Auftraggeber, für die er Filme produziert. Besonders nachgefragt sind derzeit Dokus zu zeitgeschichtlichen und Wissenschaftsthemen. „Wir haben eine zehnteilige Psychologie-Reihe gemacht. Das wäre vor Corona nicht so einfach möglich gewesen“, so Kähler. Mit der Pandemie, die viele Menschen auch psychisch belastet hat, stieg das Interesse nach solchen Themen. Corona hat nicht nur auf die Inhalte im Dokumentarfilm Einfluss genommen. Im Gegensatz zu vielen anderen Branchen haben Produktionsfirmen von der Pandemie profitiert. Das erklärt sich zum einen mit dem Informationsdurst und dem Medienkonsum als oft beliebte Freizeitbeschäftigung in Zeiten von Lockdown und fehlendem gesellschaftlichen Leben. Zum anderen ließen sich Dokumentarfilme „zur Hochzeit der Coronakrise oftmals einfacher zu produzieren als große Shows oder Serien und Filme“, wie DWDL berichtet. Der Branchendienst verzeichnete sogar Neugründungen von Produktionsfirmen als Reaktion auf die große Nachfrage von Sendern. Die Pandemie als Geldsegen für ein Genre, das nicht immer so beliebt bei den Zuschauer:innen war? Nicht ganz. Mehrere Produktionsfirmen berichten im Gespräch mit White Lab von gestiegenen Produktionskosten. Das liegt nicht nur an Mehrausgaben für Reisen und Flüge. Wie in anderen Bereichen auch, müssen die Produktionsfirmen Ausfälle durch Corona-Erkrankungen kompensieren. Fehlt plötzlich der Kameramann oder die Hauptprotagonistin, muss der Dreh abgesagt werden. So etwas kostet schnell mehrere tausend Euro. 

Streaming-Plattformen: Segen und Fluch zugleich

Nicht nur die Sender, allen voran ZDF und ARD, lassen derzeit Doku um Doku produzieren. Auch auf den großen Streamingplattformen boomt das Genre. Noch kaufen Anbieter wie Netflix und Amazon Prime Dokumentarfilme ein und produzieren nicht selbst. Im Zeitalter von On-Demand stellen sie aber bereits jetzt auch in diesem Bereich eine große Konkurrenz dar. Die Sender haben das erkannt und investieren in die eigenen Online-Plattformen. Anfang dieses Jahres sicherte sich die Streaming-Plattform RTL+ (ehemals TVNOW) die Exklusiv-Rechte an Produktionen des US-Streamingdienstes HBO Max. Die RTL Group hofft damit ihr Streaming-Portal als echte Konkurrenz zu Netflix und Co. positionieren zu können. ARD und ZDF wollen gemeinsam ein Gegengewicht zu den Big Playern bilden. Dabei ist zunächst kein neues Streamingangebot geplant, vielmehr sollen die Inhalte beider Sender sowohl in der ARD-Mediathek als auch in der ZDF-Mediathek abrufbar sein. Was bedeutet diese Konzentration auf Mediatheken für den Dokumentarfilm? Streamingdienste wie Netflix und Amazon Prime bleiben eine große Konkurrenz für Sender und Dokumentarfilmer:innen. Die US-Unternehmen können Budgets abrufen, von denen die Sender hierzulande nur träumen können. Und sie nehmen noch auf eine andere Weise Einfluss auf die Branche. „Filmemacher:innen orientieren sich vermehrt an der Bildästhetik, wie sie auf Netflix und Co. zu sehen ist“, erklärt Kristian Kähler. Die Machart der dort gezeigten Dokus setzt in der Branche oft Trends, wenn es beispielsweise um Kameraeinstellungen oder Stilmittel geht. Sender und Dokumentarfilmer:innen hierzulande nehmen sich die Produktionen der Big Player als Vorbild. Für Produzent Kristian Kähler hat das etwas Gutes: Die Sender beginnen sich von starren Fernsehformaten zu lösen und zeigen sich im Kampf um Zuschauer:innen experimentierfreudiger in Look und Inhalt ihrer Filme. „Auch die Story spielt somit eine größere Rolle. Es gilt: ‚content first‘. So etwas haben wir uns als Filmemacher:innen immer gewünscht“, so Kähler. 

Streaming-Plattformen, wie die ARD-Mediathek, haben oft einen eigenen Bereich für Dokus und Reportagen. Bild: Screenshot

Doku-Boom: Herausforderung und Chance

Ein großes Problem bereiten Streaminganbieter wie Netflix der Doku-Branche dennoch. Sie sind in der Lage Gehälter zu zahlen, die Produktionsfirmen nicht aufbringen können. Damit verschärft sich der Fachkräftemangel, den viele Produzent:innen als größte Herausforderung für die nächsten Jahre sehen. Wie in anderen Bereichen auch, mangelt es im Dokumentarfilm an ausgebildetem Personal. Vor allem Kameraleute und Mitarbeiter:innen in der Postproduktion fehlen derzeit. Für die Zukunft braucht es mehr Ausbildungsmöglichkeiten – und neue Anreize. Lange Arbeitszeiten und wenig Budget schrecken ab. Hier könnte der anhaltende Doku-Boom eine Chance sein, wie es bereits DWDL im vergangenen Jahr prophezeit hat: „Wenn nun die Nachfrage steigt, werden sich zwangsläufig wohl auch die Arbeitsbedingungen verbessern.“ Die Branche ist also nicht nur im Aufwind, sie ist auch im Umbruch. Gute Zeiten also für Dokumentarfilmer:innen.