Ukraine-Berichterstattung: Journalistin Joana Rettig über Informationsflut, Herzrasen und 18-Stunden-Tage

Artikelbild: Ukraine-Berichterstattung: Journalistin Joana Rettig über Informationsflut, Herzrasen und 18-Stunden-Tage
Während großer Nachrichtenlagen sind Journalist:innen im Dauereinsatz. © Fedorovekb/Adobe Stock

Die Tage sind lang, der Stress ist extrem hoch. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine befinden sich Reporter:innen wie Joana Rettig im Ausnahmezustand.

Herzrasen und 18-Stunden-Tage – das klingt nicht wie ein Traumjob. Doch im Gespräch mit „watson“-Politikredakteurin Joana Rettig entsteht keineswegs der Eindruck, dass die Arbeit ein Problem ist. „Natürlich prasseln ständig Informationen auf meine Kolleg:innen und mich ein und wir müssen das alles verarbeiten – auch mental, aber uns ist allen bewusst, wie wichtig es ist, über den Krieg zu berichten, wie wichtig es ist, die Menschen zu informieren“, sagt die Journalistin.

Redaktioneller Ausnahmezustand kommt per Pushmeldung

Für die Politikredaktion von „watson“, ein Nachrichtenportal für junge Menschen, kommt die Kriegsmeldung am 24. Februar 2022 nicht so überraschend. „Die Lage hat sich schon Ende 2021 zugespitzt“, sagt Joana, die bei „watson“ insbesondere für Außenpolitik zuständig ist. „Der richtige Ausnahmezustand kam dann mit der Pushmeldung über die Anerkennung der ostukrainischen Gebiete durch Putin beziehungsweise Russland.“ Ab da werden die Tage der Journalist:innen immer länger. Joana arbeitet von 7 bis 22 Uhr, checkt ständig Agenturmeldungen, Nachrichtenportale, Social Media. Unzählige Informationen, Minute um Minute.

Dann: Kriegsbeginn, Donnerstag, 24. Februar: „Mein Wecker klingelt um 5.30 Uhr und ich sehe die ersten Meldungen zum Krieg. Ich bin sofort hellwach, beginne mit der Arbeit“, erinnert sie sich. Die Redaktion kommt schnell zusammen. „Wir sind dann alle ein bisschen durchgedreht, wie das bei solchen Lagen eben passiert.“ Aber das legt sich schnell, der erste Schritt: überlegen, was sie leisten können. Es folgt eine Liste mit Fragen, mit Themen, mit Expert:innen. Fünf Seiten, die die Journalist:innen nach und nach abarbeiten. „Teilweise hat jeder drei Themen am Tag recherchiert, geschrieben und veröffentlicht. Ein extrem hohes Pensum.“

„Als am Donnerstag um 5.30 Uhr mein Wecker klingelte, da begann mein Herz zu rasen. Und das zog sich so durch den Tag. Nach etwa 18 Stunden Arbeit lag ich im Bett: Es pochte in der Brust, die Augen schmerzten, die Angst hämmerte sich durch meinen Körper hindurch, die Gedanken waren leer – der Kopf so voll. ,Wie soll das noch gut ausgehen?', war einer der wenigen Gedanken, die ich zwischen all den anderen noch verstehen, überhaupt noch hören konnte. In mir drin, ganz tief.“
Joana Rettig, Politikredakteurin bei "watson"

Joana spricht offen darüber, wie sie mit der Situation umgeht und wie gut sie klarkommt oder auch nicht. In einem Artikel schreibt sie über den Weltschmerz, den sie spürt, der sich durch die aktuelle Situation verschärft. „Neben all den privaten Problemen, die wir ja alle haben, hauen mich Tag für Tag neue Schreckensnachrichten um – und manchmal weiß ich nicht mehr, wie ich damit umgehen soll.“

Bei Instagram postet "watson" jeden Tag News - auch sehr persönliche Stücke wie Joanas Text über ihren Weltschmerz werden dort veröffentlicht. Die Kommentare sind nicht immer verständnisvoll. Bild: Screenshot Instagram

Journalist:innen sprechen offen über ihre Arbeit – inklusive der Probleme

Auch „watson“-Chefredakteur Swen Thissen gibt einen Einblick in das Innenleben der Politikredaktion. In einem kommentierenden Stück schreibt er etwa: „Am Donnerstagmorgen, als die Welt zu realisieren begann, dass die schlimmsten Befürchtungen wahrgeworden waren, bat mich Joana um ein paar Minuten Zeit. Um ein Gespräch, ein Brainstorming, Planung – irgendetwas. Sie war, wie ich, schon jetzt gezeichnet vom Tag. Wir waren beide seit fünf Stunden im Einsatz. Aus dem Bett getrieben von den Eilmeldungen aus der Ukraine, an die Laptops geeilt wegen unseres Jobs, unserer Aufgabe: zu informieren.“ Und dann gibt er wieder, dass auch Journalist:innen manchmal keine Worte mehr haben:

„Es ist okay, wenn man in Zeiten wie diesen einfach mal noch keine endgültige Einschätzung hat. Und es ist okay, das zuzugeben. Um sich dessen bewusst zu sein und umso bedachter zu sprechen, zu diskutieren, zu urteilen; und im Falle von Journalistinnen und Journalisten: zu berichten.“
Swen Thissen, Chefredakteur bei "watson"

Diese Transparenz ist wichtig für die Medien, den Journalismus und die Berichterstattung im Besonderen. Wie der Wissenschaftler Professor Christian Schicha im Interview mit White Lab erläutert, sind selbstverständlich auch Medienmacher:innen Menschen – und Menschen haben Grenzen und sind manchmal eben einfach sprachlos.

Factchecking mit “Open Source Intelligence”

Transparenz ist aber nicht nur wichtig, wenn es um das Befinden und die (mentale) Belastung der Journalist:innen geht. Auch die Berichterstattung braucht Offenheit. In Kriegszeiten sind viele Informationen durch Propaganda verseucht. Es ist nötig, dass Nachrichtenmacher:innen zu jeder Zeit die Fakten prüfen, wie auch Professor Schicha betont. Die Süddeutsche Zeitung hat ebenfalls in einem Blogartikel verdeutlicht, wie die Redaktion mit der derzeitigen Situation umgeht und wie sie zum Factchecking „Open Source Intelligence“ nutzen:

„Die Verifikation von Bildmaterial im Netz gehört zum breiten Feld der sogenannten Open Source Intelligence, kurz Osint. Der Begriff stammt aus der Welt der Geheimdienste, taucht aber immer häufiger auch in Redaktionen auf, auch in Deutschland. Er bedeutet unterm Strich nichts anderes, als öffentlich im Netz verfügbare Quellen zu finden und strukturiert auszuwerten. Und damit sind wirklich alle Quellen gemeint: Nicht nur Fotos und Videos in sozialen Netzwerken, sondern auch Datenbanken, Dokumente, Satellitenbilder, Internetarchive, Flugzeug- und Schiffstracker. Osint-Journalistinnen und -Journalisten benutzen zudem verschiedene Onlinetools, die ihnen die Recherche erleichtern.“

Die Politikredaktion von „watson“ checkt natürlich auch alles gegen - das ist wichtig, um Falschmeldungen zu vermeiden. Wenn es um ganz harte News aus Kriegsgebieten geht, die kaum zu verifizieren sind, arbeiten sie mit den Nachrichtenagenturen AFP, Reuters und dpa zusammen. Und wenn die „watson“-Journalist:innen Menschen hier in Deutschland treffen, die etwa aus der Ukraine geflohen sind und ihnen Geschichten erzählen? "Dann sichern wir natürlich auch alle Informationen, die wir veröffentlichen, ab. Außerdem posten wir keine politischen Statements von Privatpersonen“, sagt Joana. Eine weitere Absicherung gegen Propagandameldungen oder Fake-News.

„I feel you“ – Situation für junge Menschen neu

Generell sind die Nutzerzahlen bei „watson“ extrem hochgegangen, viele junge Menschen möchten sich informieren und suchen gezielt nach gesicherten Informationen. Neben teilweise politisch motivierten Kommentaren und Verschwörungstheorien auf Social Media gibt es auch ein paar Rückmeldungen zu den ehrlichen Ausführungen von Joana und Swen. „Es kommen schon ein paar Kommentare wie ,I feel you!‘“, sagt Joana. „Ja, die Situation ist für uns junge Menschen alle neu.“  

Joana Rettig, Politikjournalistin

Joana Rettig, Politikjournalistin -

Joana Rettig ist Journalistin und arbeitet seit September 2021 beim Nachrichtenportal "watson" in der Politikredaktion, die sie ab Mai 2022 leiten wird. Zuvor war Joana nach ihrem BWL-Studium mit Schwerpunkt Marketing und dem Volontariat beim Mannheimer Morgen als Wirtschaftsredakteurin bei der Tageszeitung für die Themen Digitalisierung, Finanzen und Gesundheit zuständig.