Exklusiv-Interview

ARD-Transformation-Strategist: Mediathek first nimmt zu

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Screenshot: ardmediathek.de

Mediatheken werden immer wichtiger. Wir wollen von den Sendern wissen, was das für die TV-Produktion bedeutet. Dieses Mal im Interview: Jonas Bedford-Strohm, Transformation-Strategist bei ARD-Online.

Inwieweit unterscheiden sich die Zielgruppen und tatsächliche Zuschauer:innen von TV und Mediathek?

Jonas Bedford-Strohm: Im Zentrum unserer Arbeit steht unser Auftrag, für alle Menschen ein attraktives inhaltliches Angebot zu machen. Eine umfassende Öffentlichkeit entsteht nicht mehr mit einem eindimensionalen Angebot für Alle, sondern nur durch vernetzte und sinnvoll aufeinander bezogene Angebote für die vielen ausdifferenzierten Gruppen, aus denen sich heute das „Alle“ zusammensetzt. Die einzelnen Gruppen haben sehr hohe Erwartungen an einen passgenauen Zuschnitt der Inhalte. Dem wollen wir gerecht werden und gleichzeitig diese Gruppen miteinander ins Gespräch bringen. Dafür müssen wir zunächst alle Gruppen erreichen und dann ein so gut koordiniertes Portfolio- Management machen, dass wir auch spitzen Zielgruppen einen Austausch miteinander ermöglich. Das ist eine Herausforderung, die den Kern unseres demokratischen Auftrags betrifft. Dass wir bisher bei älteren Zielgruppen in Radio und TV sehr erfolgreich sind und wir mit Angeboten wie KiKA und funk auch junge Zielgruppen immer besser erreichen, wissen wir – aber das ist eben noch nicht in allen Milieus der Fall, auch noch nicht stark genug auf unseren eigenen Plattformen und noch nicht gleichmäßig genug über alle Altersschichten hinweg. Die Mediathek hilft uns sehr dabei, die Gruppen mittleren Alters und perspektivisch auch die jungen Zielgruppen noch besser anzusprechen. Deshalb stärken wir sie als die gemeinsame Plattform aller ARD-Anstalten weiter ganz bewusst.

Welche Inhalte funktionieren in der Mediathek besser als im linearen TV-Angebot?

Wenn die Zielgruppen differenzierter werden und auch Nischen-Inhalte einer relevanten Gruppe von Menschen einen echten Mehrwert bieten, dann verändert sich das Anforderungsprofil an die Inhalte. Man braucht weniger Inhalte, die einen „Durchschnittsmenschen“ im Blick haben und mehr Inhalte für spezifische „communities of interest“. Das zeigt sich in den Themen, der Ästhetik, der Ansprache, der Besetzung, der Distribution und eben auch in der Formatierung. Deshalb müssen wir an vielen Stellen unser Mindset grundlegend wandeln. Im Linearen wird ein Schema mit festen Sendeplätzen festgelegt. Da muss das Thema ins Schema passen. Der große Vorteil im Digitalen ist, dass wir allein vom Thema her denken können. Der Inhalt definiert die Form – ob eine Doku zwei Minuten länger oder kürzer ist, ist in der Mediathek egal. Hier schaffen neue Technologien und die neue Mediennutzung eine neue Freiheit – auch für Journalist:innen. Dieses Potenzial werden wir künftig noch stärker ausschöpfen.

Inwieweit dient die ARD-Mediathek als Experimentierfläche für neue Inhalte?

Eine große Chance sehe ich in der Pilotierungs-Struktur und der fortlaufenden Format-Entwicklung, die in digitalen Produkten einfacher umzusetzen ist. Wir haben detailliertere Erkenntnisse dazu, was die Menschen anspricht und was an ihren Bedürfnissen vorbeigeht. Wir können zunächst einige Folgen produzieren, die dann im Erfolgsfall erst ausgebaut werden. Diese Flexibilität und die Co- Creation mit der Community, die den Inhalt als ihren eigenen annimmt und teils sogar richtig feiert – das ist ein spannendes Potenzial, das wir immer mehr nutzen werden. Je besser unsere Koordination auch zwischen Audio und Video wird, desto kreativer können wir mit Pilotierungen umgehen. So lassen sich aus einem Podcast-Stoff, der in der audio-affinen Community erfolgreich ist, künftig auch Bewegtbild-Formate für video-affine Communities entwickeln. Je besser wir als ARD-Verbund unsere Vielfalt koordinieren, umso reichhaltiger und spannender wird das Medienerlebnis für die Menschen. „Das Geheimnis des Totenwaldes“ ist ein gutes Beispiel: Dazu gab es eine non-fiktionale Doku und einen fiktionalen Mehrteiler in TV und Mediathek, aber eben auch einen Doku-Podcast in der Audiothek. Je mehr solcher Best Practices uns gelingen, desto mehr übergreifende „ARD-Erlebnisse“ schaffen wir auf unseren Plattformen.

In welchem Umfang produziert die ARD Inhalte ausschließlich für die Mediatheken?

Der Umfang der "Mediathek first“ Inhalte nimmt stetig zu, was sich am Ende des Tages auch in kontinuierlich wachsenden Nutzungszahlen in der Mediathek auszahlt. Unter den Mediatheken der deutschen Fernsehsender haben wir mit der ARD Mediathek nun die meisten Nutzer:innen. Das zeigt, dass wir schon jetzt eine große Vielfalt an Gruppen ansprechen und die Grundlage geschaffen haben, Lücken im Portfolio gezielt zu schließen. Die ARD hat ein sogenanntes non-lineares Mengengerüst entwickelt, bei dem alle ARD-Anstalten ihren Beitrag zur Stärkung der Mediathek leisten. Inhalte, die die Mediathek als unsere eigene, gemeinsame Plattform stärken, stehen dabei ganz oben auf der Liste.

Welche Rolle spielen Plattformen-Giganten wie Netflix und Disney+? Konkurrent auf Augenhöhe oder dienen die internationalen Plattformen eher auch als Orientierung in Bezug auf Bildästhetik oder Trends bei Themen?

Natürlich haben Netflix und Co. frischen Wind in die deutsche Medienlandschaft gebracht. Mit ihren globalen Skalen-Effekten haben diese Player eine große Ressourcen-Wucht, die sie auch hierzulande einsetzen können. Nach der großen Startup- und Investment-Phase scheint jetzt aber eine Phase der Konsolidierung und Rationalisierung erreicht, wenn man beispielsweise die Fusion von Warner und Discovery oder den Stellenabbau bei Netflix berücksichtigt. Insofern ist die Frage für mich offen, wer von diesen Playern in einigen Jahren wirklich noch „Gigant“ ist und weiter eine große Markt-Macht ausüben kann – das bleibt spannend. Was sich jetzt schon abzeichnet: Diese Player müssen immer auch für ein globales Publikum produzieren und deswegen hat sich eine neue Standard-Ästhetik durchgesetzt, die genauso altern wird. Und da sind wir als regional verwurzelter Anbieter bestens positioniert, um Alternativen anzubieten. Mein Eindruck ist: Wir können von Netflix und Co. insbesondere in der Plattform-Entwicklung sehr viel lernen. Und das, ohne uns selbst aufzugeben. Ganz im Gegenteil: Der neue Wettbewerb ist eine ideale Gelegenheit für uns zu zeigen, aus welchem Holz wir geschnitzt sind. Die regionale Verwurzelung, die Nähe zu den Menschen, die jahrzehntelang aufgebaute vertrauensvolle Verankerung in der deutschen Produzenten-Landschaft – das sind alles echte Standort-Vorteile, die wir auch digital ausspielen werden.

Was "mediathek first" für TV-Journalist:innen und Filmemacher:innen bedeutet, erfahrt ihr in unserem Beitrag Schlechte Zeiten? Gute Zeiten für den Dokumentarfilm!

Wie sieht die aktuelle Berichterstattung in der Mediathek im Vergleich zum TV-Angebot aus?

Der wichtigste Unterschied ist die Möglichkeit zur zeitversetzten Nutzung der Angebote, die vollkommen unabhängig vom linearen Programm-Schema ist. Um einen verständlich kuratierten Zugang zu den aktuellen Abruf-Inhalten in der Mediathek zu bieten, haben wir vor Kurzem mit den Teams der Tagesschau eine neue Themenwelt Nachrichten geschaffen. Gerade in Breaking-News- Lagen haben aber auch unsere Livestreams eine zentrale Bedeutung – hier ist die Mediathek in bestem Sinne „powered by TV“ und profitiert zum Beispiel vom Ausbau des Nachrichten-Kanals tagesschau24 und der verbesserten Breaking-News-Fähigkeit der ARD insgesamt. Wir unterstützen diese Aktualitäts-Offensive mit neuen Produkt-Features wie Breaking-News-Bannern in Mediathek und TV, aber auch Sprungmarken, die es sehr einfach machen, einen prominent kuratierten Livestream anzusteuern und direkt zum Beginn der Sendung zu springen. Diese Funktion wird durch die Integration von linearen Programm-Daten möglich und daran sieht man: es ist ein sehr konstruktives Miteinander von Mediathek und TV. Berücksichtigt man dann noch die aktuellen Inhalte in der ARD Audiothek und unseren Radiowellen, aber auch die fantastisch erfolgreiche Arbeit der Tagesschau auf Social Media, ergibt sich medienübergreifend ein starkes und plattformgerechtes Angebot in der aktuellen Berichterstattung.

Welche aktuellen und zukünftigen Investitionen plant der Sender in Bezug auf seine Mediathek?

Der Weg der ARD-Anstalten, die große Vielfalt gemeinsam auf einer Plattform abzubilden, zahlt sich aus. Die Nutzung der Mediathek hat sich von 2019 auf 2021 verdreifacht. Parallel wurde die Infrastruktur saniert: Zum Jahreswechsel haben wir die Mediathek auf eine neue technologische Basis umgezogen. Damit werden neue Funktionalitäten in der Personalisierung und der Kuratierung der Mediathek möglich, die wir jetzt Schritt für Schritt implementieren. Wichtige Verbesserungen waren die neue Suche und auch der neue Meins-Bereich, den wir weiter ausbauen werden. Schon jetzt sind Mediathek und Audiothek kaum wiederzuerkennen. Deswegen kann ich nur dazu ermutigen, nochmal einen neuen, frischen Blick auf die beiden Produkte zu wagen.

Im Juni 2021 verkündeten ZDF und ARD die Schaffung eines gemeinsamen Streaming-Angebots. Wie ist der aktuelle Stand und was sind die Beweggründe für so einen Schritt? Lässt sich schon etwas zu den geplanten Features wie dem Personalisierungs- und Empfehlungssystem sagen?

Im Streaming-Netzwerk haben wir mit dem ZDF eine umfangreiche technologische Partnerschaft vereinbart, die sich schon jetzt als sehr produktiv herausstellt. Mit den Partnerkanälen von arte, KiKA, funk, phoenix und künftig auch 3sat in den Mediatheken von ARD und ZDF sind bereits die ersten Früchte der Zusammenarbeit in einem gemeinsamen Ökosystem der Öffentlich-Rechtlichen sichtbar. Darauf kann das Streaming-Netzwerk sehr gut aufbauen. Konkret arbeiten wir derzeit an übergreifenden Empfehlungen, die die Inhalte in der jeweils anderen Mediathek ausspielen werden. Die wechselseitige Abspielbarkeit ist sichergestellt und auch die Content-Zulieferung wird bereits getestet. Die grundlegenden Entscheidungen zur Zusammenarbeit bei der Recommendation Engine und dem Login sind getroffen. Jetzt arbeiten wir an der Umsetzung. Mit dieser technologischen Partnerschaft können wir die Potenziale, die in der vernetzten Struktur digitaler Angebote schlummern, noch einmal ganz neu für unseren Auftrag nutzen. Der Koordinations-Aufwand ist dabei natürlich sehr hoch und die Bedürfnisse der unterschiedlichen Partner sind vielfältig. Aber sie eint das Interesse an der Zusammenarbeit und deswegen bin ich fest überzeugt, dass die digitale Zukunft in Deutschland bei aller Konkurrenz aus Übersee eine stark Öffentlich-Rechtliche sein wird.

Wie schätzen Sie die aktuelle und zukünftige Bedeutung der Mediatheken auf dem Markt ein - auch im Vergleich zum linearen Fernsehen?

Wir sind im Moment in einem Spagat. Die junge Bevölkerung bis 30 Jahren – zu der ich ja selbst gehöre – ist fast nur noch digital unterwegs. Die Bevölkerung ab 50 Jahren ist vorwiegend linear unterwegs. Und in der Mitte der Alterspyramide ist die Nutzung recht ausgeglichen. Unsere Mediatheken bilden das ab: Sie sind sowohl Streaming-Angebot für die jungen Generationen, als auch TV-Archive für die älteren. Beide Nutzungsfälle haben ihre Berechtigung und das werden wir auf absehbare Zeit abbilden müssen. Und wenn wir sehen, dass Streaming-Anbieter in werbefinanzierte Live-Angebote investieren, zeigt sich, dass „lineare“ Angebote nicht einfach Vergangenheit sind, sondern in Plattform-Strukturen neu interpretiert werden. Für diese Phase des Wettbewerbs sind wir in der ARD mit unserem hybriden Ansatz wie gemacht. Unsere lineare Stärke in Radio und TV wird uns bei der Transformation helfen. Und weil sich die Nutzungsgewohnheiten der Menschen weiter verändern, werden sich auch die Sender-Mediatheken immer mehr zu digitalen Plattformen weiterentwickeln, die Live genauso attraktiv wie die zeitversetzte Nutzung ermöglichen.

Jonas Bedford-Strohm ist Transformation-Strategist bei ARD-Online. Bild: SWR